Ralf Grigat, Greven (D), Jan Hesselink, Ootmarsum (NL), Piet Overduin, Voorhout (NL)
Abstrakt
Neue Autorität – introduziert von Haim Omer – gehört anscheinend seit einigen Jahren in unterschiedlichen Jugendhilfeeinrichtungen zum Rüstzeug für angehende Pädagogen /-innen und scheint ein praktisches Werkzeug zu sein, um im Arbeitsalltag (potentielle) Konflikte zu regulieren.
Was versprechen sich Pädagogen/-nnen, Erzieher/-nnen und Führungskräfte in der Jugendhilfe von der Anwendung der Neuen Autorität, wo doch Inklusion und die Stärkung von Kinderrechten sowieso die Inhalte ihrer Arbeit sein müssten und wie praktizieren die Führungskräfte dieses Konzept unter dem Gesichtspunkt einer „effektiven Führung mit sicherer Basis“ von George Kohlrieser? „Secure Base Leadership” verbindet Fürsorge mit Wagnis. Erfolgreiche Führungskräfte entfesseln Potenzial, das eigene und das ihrer Mitarbeiter, indem sie eine Vertrauensbasis für Inspiration und ein gesundes Risiko schaffen. Beim Klettern gibt es zwei klar definierte Rollen zwischen den beiden Kletterpartnern: Eine Person steht unten und sichert mit einem Seil eine andere Person, die oben an der Wand klettert, ab. Somit entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden: ein Gefühl der Sicherheit für den kletternden Partner, das ihm erlaubt Risiken einzugehen. Welche Mittel und Veränderungen sind nötig, damit Institutionen, vor allem die Hilfen zur Erziehung auf demokratische und reformpädagogische statt auf autoritäre Methoden zurückgreifen könnten?
Wie müssen die Strukturen ambulanter Hilfen, der Heimpädagogik und von Schulen sowie die Arbeitsbedingungen von Pädagogen/-innen und Lehrkräften verändert und weiterentwickelt werden, damit für eine (sozial-) pädagogische Arbeit und Unterstützung, welche die Wahrnehmungen und Gefühle der Kinder (= die Lebenswelten der Kinder u. Jugendlichen) respektiert, Zeit und Raum ist? Wie leistet dieses Modell seinen Beitrag zu gelingender Erziehung und guter Entwicklung von Kindern in der Heimerziehung, im Elternhaus oder Schule, unter dem Gesichtspunkt der sicheren Bindung. Ist dies mit den systemischen Grundannahmen und Haltungen vereinbar?
Der Leitsatz nach Omer (Omer/Streit 2019, S.17) lautet: „Ich bin immer für dich da.“ Damit Kinder sich gut entwickeln können, brauchen sie einen Zufluchtsort, einen sicheren elterlichen Hafen, so Omer. Welche Mittel und Veränderungen sind nötig, damit Institutionen, vor allem die Hilfen zur Erziehung und Schule, auf demokratische und reformpädagogische statt auf autoritäre Methoden zurückgreifen könnten?
1. Einleitung
Kinder brauchen eine verlässliche äußere Ordnung, damit sie wachsen und (nach-) reifen können. Sie benötigen Sicherheit im doppelten Sinne: sowohl in den direkten personalen Bezügen als auch in den Bestimmungen von Welt, die durch seine Bezugspersonen repräsentiert werden. Sie brauchen eine äußere Welt, auf die sie sich verlassen können. Dies gilt für jedes Kind. Für das unsicher gebundene Kind, für das Kind, das schmerzhaft aus seinen kränkenden, aber doch vertrauten familiären Bezügen herausgerissen wurde, in machen „Fällen“ eine langjährige Laufbahn, von Versuchen in der Pflegefamilie, Familiengruppe, Kinder - und Jugendpsychiatrie, hinter sich hat und schon in jungen Jahren mehrere Beziehungsabbrüche erfahren musste, gilt dies in besonderer Weise.
Doch wir leben heute in einer Welt, die Verlässlichkeit kaum noch bieten kann. Dies gilt für die Familien ebenso wie für die Systeme Jugendhilfe, Schule, Sportverein, Schachclub usw. Vor allem das „Heim“ ist in einer besonders heiklen Situation: Mehr und mehr Erzieher müssen sich die Erziehung der Kinder teilen - manchmal im Schichtdienst. Doch die Erziehungsvorstellungen der einzelnen Mitarbeiter driften in modernen Gesellschaften zusehends auseinander. Denn der einzelne Erzieher bringt in einer stark pluralisierten Gesellschaft eigene, höchst individualisierte Überzeugungen darüber mit, wie für ihn die Erziehung aussehen muss. Zudem haben sich Einrichtungen der Jugendhilfe zu einem komplexen System entwickelt, mit unterschiedlichen Hierarchieebenen und Zuständigkeiten und auf der horizontalen Ebene, mit unterschiedlichen Fachzuständigkeiten und Systemen und deren jeweils eigenen Logik.
Diese zunehmend komplexer werden Strukturen gehen gleichsam mit Chancen und Gefahren einher: Den komplexen Hilfefragen/ -bedarfen sollen komplexe, auf das einzelne Kind und die einzelne Familie passgenaue Antworten gegeben werden. Wie aber kann sichergestellt werden, dass die Potentiale, die mit Blick auf das einzelne Kind und seine Familie vorhanden wären, auch zielführend und gebündelt aufgerufen und optimal zusammengeführt werden? Wie können die mit unterschiedlichen Systemen einhergehenden zentrifugalen Kräfte zielführend und passgenau zusammengeführt werden? Wie wird eine Kakophonie der Kräfte ausgeschlossen?
Wie können unterschiedliche Berufsauffassungen, Haltungen, Lebensvorstellungen und Werte der einzelnen Akteure zu einem Ganzen werden? Und nicht zuletzt: Wie sehen die Gewichtungen zwischen den Systemen aus? Welche Bedeutung hat der Therapeut, welche der Erzieher? Welche Bedeutung hat in den Augen der unterschiedlichen Akteure die Schule und schulische Leistung? Welche die Haushaltskraft? Welche Bedeutung hat der Hausmeister und welche die externen Systeme? Welche Bedeutung räumen wir im Alltag der Ursprungsfamilie ein? Und wer entscheidet das? Welchen Betrag zum Gelingen tragen die unterschiedlichen Leitungsebenen bei?
Letztlich, die Situation ist objektiv schwierig. Schließlich können Erziehungsvorstellen und -werte, Haltungen usw. nicht von oben verordnet werden. Und illustrieren die in komplexen Erziehungseinrichtungen favorisierten Lösungen nicht gleichsam das genannte Problem auf fatale Weise? Zum Beispiel das in den meisten Einrichtungen eingeführte Bezugs-Betreuer-System soll Verlässlichkeit in ein System bringen, in dem gleichzeitig fünf Mitarbeiter arbeitsteilig zehn Kinder erziehen sollen. Doch kann Erziehung delegiert, arbeitsteilig weitergegeben oder zeitlich aufgeschoben werden?
Für Niklas Luhmann geschieht Erziehung in der unmittelbaren personalen Begegnung von Mensch zu Mensch, Erzieher und Kind. Deshalb kann Erziehung weder in die Vergangenheit zurückkehren noch in die Zukunft vorauseilen. Alles was geschieht, geschieht jetzt. Erziehung muss deshalb prozessiert werden im Hier und Jetzt sogenannter Vis-a-vis-Situationen.
Aber sind die teils junge Erzieher/-innen und (Sozial- )Pädagogen/-innen in der Lage um eine relevante pädagogische Grundhaltung zu etablieren, welche den heranwachsenden Kindern und Jugendlichen Halt gibt, Sicherheit bietet und Freiraum zum Experimentieren gibt? Was versprechen sich Eltern und Pädagogen/-innen von der Anwendung der Neuen Autorität, wo doch Inklusion und die Stärkung von Kinderrechten sowieso die Inhalte ihrer Arbeit sein müssten? Wie praktizieren Führungskräfte dieses Konzept ?
Wie müssen die Strukturen ambulanter Hilfen, der Heimpädagogik und von (Sonder-) Schulen sowie die Arbeitsbedingungen von Pädagogen/-innen und Lehrkräften verändert und weiterentwickelt werden, damit für eine (sozial-) pädagogische Arbeit und Unterstützung, welche die Wahrnehmungen und Gefühle der Kinder (= die Lebenswelten der Kinder u. Jugendlichen) respektiert, Zeit und Raum ist?
2. Der Begriff der Autorität
Der Begriff der Autorität hatte seinen Ursprung im politischen Rahmen. Bei den alten Römer ging es um „auctoritas“. Es handelte sich um einen alten Wertebegriff. Mit den Wörtern „Würde“, „Ansehen“ und „Einfluss“ lässt sich dieser Begriff am Besten beschreiben. Die Römer meinten vor allem Führungs- und Empfehlungsmacht des Senates. Somit ist Autorität mit Führung verbunden. Auch im Mittelalter wurde der Begriff „auctoritas“ gebraucht. Letztlich entwickelte sich im Deutschen hieraus das Wort Autorität. Heutzutage meint Autorität im weitesten Sinne das Ansehen, das einer Person oder einer Institution zugeschrieben wird und bewirken kann, dass sich andere Menschen in ihrem Denken und Handeln hiernach richten. Der Autoritätsbegriff ist auch in die Psychologie, Soziologie und Pädagogik eingezogen, in der Pädagogik vor allem im Bereich der Erziehungsstile.
Hierbei stehen sich Konzepte der autoritären Erziehung und der antiautoritären Erziehung gegenüber. Der autoritäre Erziehungsstil ist gekennzeichnet durch viele Regeln, Verbote und Strafen. Die Eltern der Kinder sind streng und lassen sich nicht auf Kompromisse ein. Die Gefühle der Kinder und deren Ansichten sowie Bedürfnisse werden denen der Eltern untergeordnet. Teilweise geht eine autoritäre Erziehung auch mit körperlicher Züchtigung der Kinder einher. Als Spätfolge des Umbruchs von 1968 warf die junge Generation Eltern und Pädagogen vor, die Bedürfnisse von Kindern früh zu unterdrücken und so die Autonomie der Jugend zu blockieren. Der Verdacht lag nahe, dass genau durch solche Erziehungsmuster das totalitäre Nazi-Regime in Deutschland möglich war. Hieraus entwickelte sich später ein antiautoritärer Erziehungsziel, hierbei haben die Kinder die Freiheit alles zu tun, was sie möchten. Es gibt keine Regeln, Grenzen und Verbote. Folge dieses Stils waren aber oft Grenzüberschreitungen der Kinder und eine geringe Frustrationstoleranz. Kinder ohne Autorität großzuziehen, so scheint es, ist letztlich dann auch keine Alternative.
Als Antwort auf daraus resultierenden Probleme der benannten Erziehungsstile entwickelte Haim Omer, gemeinsam mit Arist von Schlippe, ein Konzept elterlicher Autorität durch Präsenz, Beziehung und ohne Gewalt (Omer u. Schlippe 2010, 2017). Dies ist Thema des nächsten Abschnitts.
3. Der Begriff und das Konzept Haim Omers in Kürze
In Beratungen und Therapien berichten Eltern und Lehrer/-innen oftmals davon, dass zu Hause oder auch in der Schule der Alltag durch Gewaltakte oder andere destruktive Handlungen seitens der Kinder geprägt ist. Eltern und Lehrer/-innen fühlen sich in solchen Situation hilflos. In der Erziehung der Kinder erfahren sie so oft Unsicherheit. Sie wissen ihre Rolle heutzutage nicht mehr auszufüllen.
Genau hier greift das Modell der Neuen Autorität von Professor Haim Omer (Universität Tel Aviv) ein.
Es ist gedacht für Familien, in denen es massive Eskalationen zwischen Eltern und Kindern gibt. Die Eltern waren dabei nicht mehr präsent und die Kinder bestimmten. Erwachsenen- und Kinderebene hatten sich verschoben. Das elterliche Verhalten war von Angst und Hilflosigkeit geprägt. Die Gefahr von Gewalt war da oder war auch schon in die Familien eingezogen.
3.1 Die sieben Säulen der Neuen Autorität
Worum geht’s im Groben bei dem Konzept? Um eine Verknüpfung von Beziehung und Autorität. Das Konzept basiert dabei auf sieben Säulen.
Grundgedanke ist die Wiederherstellung der Präsenz der Erwachsenen, um wieder elterliche Wirksamkeit zu fördern. „Von Präsenz sprechen wir, wenn die Eltern so handeln, dass die Botschaften übermittelt werden:
Ich bin hier!
Ich bin dein Vater/deine Mutter und werde es bleiben!
Ich werde dir nicht nachgeben, aber ich werde dich auch nicht aufgeben!
Ich kämpfe um dich und um meine Beziehung zu dir, nicht gegen dich! (Omer Schlippe, 2010, S.33).“
Eltern sind für die Kinder dabei ein sicherer Hafen. „Damit sich Kinder gut entwickeln können, brauchen sie einen Zufluchtsort, einen sicheren elterlichen Hafen (Fritz+Fränzi 2019)“, so Omer. Die Leitsätze dieses Hafens lauten: „Ich bin immer für dich da.“ Du kannst immer zu mir kommen. Diese Gewissheit gebe ich dir. Du kannst dich bei mir erholen, dich trösten lassen etc. Omer meint; „Der Hafen sollte so angelegt sein, dass er Booten Schutz bietet, sie aber auch herausfahren und Erfahrungen machen lässt (Fritz+Fränzi 2019).“ Das Modell setzt als als Basis auf eine sichere Bindung. Dabei üben die Eltern eine Ankerfunktion aus. Regeln und Strukturen werden vorgegeben. Das Schiff soll ja auf Kurs bleiben. Eine „Wachsame Sorge“ ermöglicht dabei aufmerksam und wachsam zu sein, um bei ersten Schwierigkeiten notwendige Schritte einzuleiten. Beim Prinzip Selbstkontrolle und Eskalationsvorbeugung geht man davon aus, dass wir nur Kontrolle über unsere eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen haben. Dadurch können wir entscheiden, wann und wie wir auf einen Konflikt reagieren wollen. („Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist.“). Wir können vorbeugen, wenn wir nicht in einen Machtkampf eintreten, sondern uns Zeit lassen, bevor wir reagieren (Deeskalation) und beharrlich dranbleiben. Dabei helfen uns Unterstützungsnetzwerke und Bündnisse mit anderen. Kein Mensch ist allein. Situationen transparent machen und Unterstützung zu suchen, ist ein entscheidendes, hilfreiches Merkmal. Unterstützer wie Verwandte, Freunde usw. können uns helfen und das übermächtige Kind ansprechen und so im Konflikt intervenieren. Transparenz und Öffentlichkeit sind also wichtig. Aggressionsminderung beim Kind liegt in der Bereitschaft der Eltern andere Menschen an den Geschehnissen zu beteiligen. Geheimhaltung ist der Nährboden für Gewalt. Transparenz gegenüber Freunde, Bekannten und Nachbarn nimmt diesen Boden. Durch konkrete Methoden des Gewaltlosen Widerstandes (vgl. nächsten Abschnitt) wird die Entschlossenheit der Erwachsenen sichtbar gemacht wird, dass ein solches Weiterleben nicht akzeptabel ist und man alles dafür tun wird, dies zu verändern. Dies aber immer gewaltlos! Durch Beziehung zu und Versöhnung mit dem Kind, beispielsweise durch wertschätzende Rückmeldungen, Gesten der Versöhnung, wird die Beziehungsebene aufrechterhalten. Hierauf baut jegliche Intervention der Neuen Autorität auf.
Die Botschaft bleibt weiterhin: „Wir sind interessiert an Dir und an einer guten Beziehung.“ Anstatt zu strafen, Konsequenzen zu setzten usw. soll letztlich Wiedergutmachung durch das Kind oder den Jugendlichen das Prinzip sein und einen Lerneffekt beim Betroffenen auslösen. Dies ist dann auch zugleich wieder konstruktives Verhalten.
3.2 Der gewaltlose Widerstand
Durch eine beigefügte Anleitung von Prinzipien und konkreter Schritte – dem sogenannten gewaltlosen Widerstand – soll es Eltern und Lehrer/-innen wieder gelingen Präsenz zu erlangen. Die Prinzipien des gewaltlosen Widerstandes sind:
„Hartnäckigkeit und Standhaftigkeit auch gegenüber nachdrücklich oder erpresserisch gestellten Forderungen des Kindes.
Die Bereitschaft, alles zu tun, was um schädliche Handlungen des Kindes vorzubeugen.
Die Bereitschaft, auf körperliche oder verbale Gewalt absolut zu verzichten, das heißt weder zu schlagen noch zu drohen, zu beschimpfen, beleidigen oder zu beschuldigen.
Die Bereitschaft und Entschiedenheit, eine Lösung zu finden, in der das Kind sich weder gedemütigt noch besiegt fühlt.
Die Bereitschaft, bei körperlichen Auseinandersetzungen sich nur zu verteidigen, das heißt Schläge abzuwehren und nicht zurückzuschlagen (Omer u. Schlippe 2010, S.231).“
Dabei stehen den Erwachsenen verschieden Methoden zur Verfügung. Beispielsweise seien genannt (vgl. hierzu Omer u. Schlippe 2010, S. 232 ff.):
Das Sit-in: Eine Art Sitzstreik im Zimmer des Minderjährigen, um massiv Präsenz zu zeigen. Es gehört zu den Hauptmethoden des gewaltlosen Widerstandes. Dabei setzen sich die Eltern einige Zeit nach der Auseinandersetzung in das Zimmer des Kindes oder Jugendlichen. Nach dem Hinsetzen beschreiben sie ihre Absicht gekommen zu sein, um eine Lösung für das Problem zu finden. Sie vermitteln, dass sie solange sitzen bleiben, bis das Gegenüber einen Vorschlag gemacht hat, wie es das Verhalten ändern will. Dabei lassen sie sich auf keine Diskussion ein. Wenn das Kind oder der Jugendliche einen positiven Vorschlag gemacht hat, verlassen die Eltern das Zimmer. Wenn kein Vorschlag kommt, bleiben sie solange wie verabredet (dies kann von einer halben Stunde bis zu zwei Stunden dauern). Kommt es weiter zu keinem Vorschlag, kündigen sie an das Sit-in am nächsten Tag zu wiederholen. Dies geschieht auch, wenn nichts durch den Minderjährigen umgesetzt wurde (vgl. Omer Schlippe 2017, S. 57 ff.).
Die Telefonrunde/das Rundtelefonieren: Eine Methode, um Gruppendruck zu erzeugen, als Reaktion für den Fall, wenn das Kind beispielsweise zu spät kommt. Hierbei geht es darum Widerstand gegen das Verschwinden des Kindes oder Jugendlichen zu zeigen. Es bezweckt das Auffinden des Kindes, zeigt elterliche Präsenz und einen Widerstand gegen das Verschwinden. Dabei wird durch Mobilisieren von Gruppendruck, der oder die Minderjährige zur Rückkehr nach Hause bewegt. Dabei werden zunächst alle Telefonnummern von Freunden und Bekannten des Kindes gesammelt, von Eltern der Freunde des Kindes, von Freizeiteinrichtungen etc. sowie aller Orte, die das Kind besuchen könnte. Bleibt der oder die Minderjährige fern, sollen alle Personen und Ort auf der Liste angerufen werden. Wenn Eltern den Aufenthaltsort kennen, können sie dort hingehen oder andere Eltern bitten das Kind nach Hause zu schicken (vgl. Omer Schlippe 2010, S. 243 ff.).
Das Mobilisieren von Unterstützung und Öffentlichkeit: Als Einbeziehen von weiteren Personen, wodurch die Eltern Unterstützung und Stärkung erfahren. Kommt es zu extremen Verhaltensweise wie Gewalt, so ist es wichtig Menschen einzubeziehen, was zu Hause passiert ist. Gewalt kann nur passieren, wenn es im Geheimen bleibt. Das Kind soll wissen, dass andere Menschen informiert sind. Dabei werden die Unterstützer gebeten Kontakt mit dem Kind aufzunehmen. Sie sollen dabei vermitteln, dass Gewalt nicht zu akzeptieren ist. Dabei können sie von „häuslicher Gewalt“ sprechen“, von einem „Strafbestand“ usw. Die Botschaften der Leute ist dabei: „Wir sind entschlossen, dass wir vorhaben, die Familie zu unterstützen, dass die Gewalt endet (vgl. Omer Schlippe 2010, S. 242 ff.).“
Nachgehen und Aufsuchen: Eine Art von „offenem Beschatten“, um wieder in Kontakt mit dem Kind oder Minderjährigen zu kommen. Wenn Kinder oder Jugendliche versuchen sich der elterlichen Aufsicht zu entziehen, wegzulaufen oder illegale Dinge tun wollen, kann das Nachgehen und Aufsuchen ein probates Mittel sein. Ziel ist den Kontakt und die Aufsicht nicht abreißen zu lassen. Dabei wird das Kind aufgefordert mit nach Hause zu kommen. Es soll dabei aber nicht bestraft werden. Dabei soll aber nicht versucht werden das Kind beispielsweise aus dem Jugendtreff hinauszuziehen. Die Eltern können stattdessen auch Kontakt mit den Freunden aufnehmen. Gegebenenfalls kann auch eine weitere Person mitgenommen werden, welches in der Situation vermittelt (vgl. Omer Schlippe 2010, S. 246 ff.).
Versöhnungsgesten: Abschließend sei der unverzichtbare Bestandteil der Gesten der Versöhnung, die jede Aktion des gewaltlosen Widerstandes begleiten sollte (vgl. Omer Schlippe, 2010 S. 256 ff.), genannt. Versöhnungsgesten sollen den Kontakt zum Minderjährigen halten oder verbessern. Hierzu zählen Äußerungen der Wertschätzung und des Respekts für das Gegenüber, die Lieblingsspeise des Kindes oder Jugendlichen zuzubereiten, gemeinsame Aktivitäten zu unternehmen etc. Diese Gesten sind Ausdruck eines guten Willens und keine Kapitulation vorm Kind. Ob und wann das Kind die Gesten annimmt oder nicht annimmt entscheidet es selbst. Letztlich sind Versöhnung, Dialog und eine gemeinsame Gestaltung von Lösungen der Königsweg.
Zusammenfassend kann man das Konzept wie folgt beschreiben: „Das Konzept beschreibt die Notwendigkeit, Autorität neu zu definieren und den Autoritätspersonen Mittel an die Hand zu geben, um Regeln definieren und deren Einhaltung einfordern zu können. Es bietet vor allem für Eltern und Pädagogen wichtige Anregungen, wie Erwachsene durch ››Neue Autorität‹‹, d.h. vor allem: Präsenz, auch in schwierigen Situationen ihre (professionelle) Handlungsfähigkeit erhalten und den Kindern und Jugendlichen Orientierung bieten können. Die verantwortlichen Personen lernen über die Haltung der Präsenz und durch die Interventionsmöglichkeiten des gewaltlosen Widerstandes aus den Machtkämpfen auszusteigen, Unterstützungssysteme zu nützen und den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen mit Wertschätzung und Achtsamkeit zu begegnen (Grigat, Hesselink, Overduin, 2020, S.223).“
3.3 Was versprechen sich Erziehende von der Anwendung der „ Neuen Autorität?
In der Arbeit mit Eltern wirken diese immer gestresster. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hatte im November 2019 Eltern von Kindern unter 18 Jahren im Auftrag der KKH repräsentativ befragt (KKH, Forsa 2019). Der größte Stressfaktor für Mütter und Väter war die Erziehung und Betreuung der Kinder (insgesamt 41 Prozent). Die hohen Ansprüche an sich selbst und der Gesellschaft spielen ebenfalls dabei ebenfalls eine Rolle. Haim Omer sieht des weiteren, dass es Eltern heute schwieriger haben als die Generation zuvor.
Im Schweizer Eltern Magazin Fritz+Fränzi sagt er dazu:„Kinder und Jugendliche waren noch nie so vielen Versuchungen ausgesetzt wie heute. Angesichts der Fülle von Konsum- und Unterhaltungsangeboten, die auf sie einprasseln, scheint es für Eltern nahezu unmöglich zu sein, sie vor deren Risiken zu schützen. Kommt hinzu, dass wir in zunehmend individualisierten Gesellschaften leben. Die soziale Kontrolle durch Nachbarn oder die erweiterte Familie greift nicht mehr. Erziehung ist zur Angelegenheit der Kernfamilie geworden, oft lastet sie auf den Schultern einer Einzelperson. Zudem fehlt es Eltern in Erziehungsfragen an Orientierung (Fritz+Fränzi 2020).“
Die Beratungen in der Praxis machen deutlich, dass die Beziehungen teilweise durch gewalttätige oder selbstzerstörerische Handlungen der Kinder geprägt sind. Die Erziehenden fühlen sich in diesen Situationen hilflos. Sie haben das Gefühl ihre Autorität zu verlieren. Es scheint, als hätten die Kinder „das Heft in die Hand genommen.“ Haim Omer und Arist von Schlippe stellen den überforderten Erziehenden ein Vorgehen vor (s.o.), das auf den Grundgedanken des gewaltlosen Widerstandes Gandhis beruhen. Durch elterliche Präsenz (Leitsatz: „Ich bin da und ich bleibe da.“) und konkrete Handlungen, quasi einer beigefügten Anleitung, soll dies wieder verändert werden.
Das Handlungskonzept der „Neuen Autorität“ erfreut sich daher einer zunehmenden Beliebtheit bei Eltern, in der Jugendhilfe, wie auch der Schule. Durch Haim Omer sehen sich die Erziehenden in ihren Nöten gesehen und das Konzept erscheint attraktiv. Konzepte, wie die Neue Autorität, bieten scheinbar Lösungen ohne schlechtes Gewissen. Es grenzt sich vom alten Verständnis von Autorität ab und stellt neue pädagogische Prinzipien (s.o.) ins Zentrum des Denkens und Handelns. Es verspricht dabei eine Handlungssicherheit durch konkrete Methoden. Wenn dann auch noch Unterstützung durch ein selbst geschaffenes soziales Netzwerk in Sicht ist, das Gefühl der Geheimhaltung gebrochen werden kann, Unterstützer und Vermittler mobilisiert werden können und öffentliche Meinung einbezogen wird (vgl., Omer, Schlippe 2010, S. S. 242 ff. ), wird das Gefühl vermittelt, dass gerade auch in stürmischen Zeiten man nicht allein ist und auch schwierige Herausforderungen meistern kann.
3.4 Praxisbeispiel
Fr. Meyer. (36) lebte mit ihren beiden Söhnen Ben (4), Felix (8) und ihre Tochter Louise (15) in Osnabrück. Seit einem halben Jahr bekam sie bereits Begleitung und Unterstützung durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB 8. Die Ziele der Hilfe lagen zunächst in einer Erziehungsberatung, der Bewältigung von Alltagsaufgaben, der Begleitung zu Ämtern und Institutionen, Aufhebung der Kommunikations- und Beziehungsstörungen in der Familie, der Bearbeitung von Konflikten und Krisen sowie der Abwehr von Gefährdungssituationen der Kinder. Die Hilfe verlief zunächst in Teilen erfolgreich an. Grundlage der Arbeit waren dabei die Grundannahmen, Haltungen und Zielsetzungen der Systemischen Familienberatung wie Hypothesenbildung, einer Haltung von Allparteilichkeit und Neutralität, einer Ressourcenorientierung – Lösungsorientierung, einer Orientierung an den Kunden, Respekt vor den Lösungsideen der Familie etc. Methodisch wurde u.a. auf die Methoden der Systemischen Beratung und Therapie gesetzt.
Gleichzeitig wurde deutlich, dass Louise über viele Jahre zuvor von der Kinderebene auf die Erwachsenenebene gekommen war. Sie machte „letztlich was sie wollte und bestimmte,“ so Fr. Meyer. Für Fr. Meyer. wirkte Louise im Alltag aggressiv und übermächtig. Ihre Tochter reagierte zu Hause mit Aggressionen auf Regeln und Grenzsetzungen und lief weg, auch über Nacht. Inzwischen hatten sich auch schon die Nachbarn des Mietshauses aufgrund der Lautstärke in der Wohnung gemeldet und immer wieder bei Fr. Meyer. vor der Tür gestanden. Fr. Meyer selbst hatte sich immer weniger präsent bei Louise gezeigt und wirkte hilflos, wollte aber nicht aufgeben. Aus diesem Grund schlug der Familienhelfer vor, ihr das Konzept der Neuen Autorität nach Haim Omer vorzustellen. Aufgrund ihrer Hoffnung Louise wieder zurückzugewinnen, nahm Fr. Meyer diesen Vorschlag an und las sich in das Konzept ein und besprach anschließend dieses mit ihrem Familienhelfer Herrn Schmidt. Besonders sprach sie der Gedanke des Mobilisierens von Unterstützung und Öffentlichkeit an. Diese Methode erinnerte sie an das afrikanische Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, benötigt es ein ganzes Dorf.“ Bisher hatte sie immer gegenüber Außen die Situation geheim gehalten, so dass Louise „walten und schalten konnte, wie sie wollte“, so Fr. Meyer. Scham und Angst vor einem schlechten Image spielten hierbei eine große Rolle. Damit sollte nun Schluss sein. Sie fing an Personen (Freunde, Bekannte und Verwandte) einzuweihen.
Louise bekam so schnell das Gefühl, dass das Geheimnis gelüftet war und das ihr Verhalten wohl nicht weiter akzeptiert würde. Sie wurde plötzlich von Freunden und Bekannten der Mutter sowie Verwandten auf ihre Gewalt und ihr Weglaufen angesprochen. Diese sagten ihr, dass sie eine genaue Beschreibung ihres Verhaltens bekommen hätten und dass das Verhalten nicht akzeptabel sei. Wurde sie gewalttätig, so wurde sie plötzlich angerufen oder jemand stand plötzlich vor der Tür, da Mama diesen/diese wohl benachrichtigt hatte. Einer sagte sogar mal, dass das was sie tat, „ein Verstoß gegen das Strafgesetz sei.“ Die Erwachsenen wollten nun alles dafür tun, dass sie sie und ihre Mama unterstützen, dass all dies aufhört. Sogar die Nachbarn, die bisher immer „Mama anmeckerten“ kamen plötzlich runter und sprachen sie an und standen plötzlich auf Mamas Seite. Mama und Herr Schmidt hatten sie wohl angeschrieben und um Hilfe und Unterstützung gebeten. „So ein Mist, jetzt wussten alle Bescheid.“ Wenn Louise weg lief, so rief Mama neuerdings bei Louises Freundinnen an. Dies war Louise sehr peinlich. Auch die Eltern ihrer Freundinnen waren dann informiert. Fr. Meyer hatte nämlich mit denen eine WhatsApp-Gruppe gegründet. So konnte Louise nicht mehr stundenlang wie früher einfach von Zuhause weg bleiben. So setzte sich bei Louise immer mehr der Gedanke durch, „dass das alles keinen Sinn mehr machte.“ Eigentlich war Mama auch manchmal auch echt nett, wenn sie „mit dem Mist“, wie Mama immer sagte, aufhörte, so lobte Mama sie plötzlich wieder mehr. Auch kochte sie ihr einmal ihr Lieblingsgericht „Nudeln mit selbstgemachter Tomatensauce.“ Erst wusste Louise nicht, ob sie das annehmen sollte, aber da Mama dabei keine Bedingungen stellte, war es ja doch ganz schön. Als es mal „länger gut zu Hause lief“ lud Mama sie und ihre Geschwister sogar zum Kino ein. „Mama zeigt echt guten Willen, sich wieder zu versöhnen,“ so dachte Louise immer mehr. Sie war nun „auch mehr für mich da, wenn es mir nicht gut ging,“ so sagte Louise einige Monate später mal zum Familienhelfer. Beispielsweise, wenn sie mal Streit mit ihrer Freundin Sandra, „dieser alten Zicke hatte“, tröstete Mama sie und nahm sie in den Arm.
Fr. Meyer hatte sich vorgenommen, damit sich die Kinder sich sicher entwickeln konnten, bräuchten sie einen solchen sicheren Hafen von ihr. Die Leitsätze von Fr. Meyer, die sie sich bei Omer gemerkt hatte, waren.:
„Ich bin immer für dich da. Du kannst immer zu mir zurückkommen, um Dich zu erholen oder trösten zu lassen (aus: Omer & Streit 2016, S. 17).“ Diese Gewissheit gebe ich dir.
Durch das veränderte Verhalten beider, von Fr. Meyer und Louise, beruhigte sich die Situation nach und nach in der Familie. Die Hilfe konnte letztlich nach einem Jahr, aus Sicht aller, erfolgreich beendet werden.
3.5 Zwischenfazit
Haim Omer und Arist von Schlippe haben mit ihrem Modell der Neuen Autorität einen innovativen Beitrag für eine gelingende Erziehung gemacht.
Dabei haben Eltern die Aufgabe, ihren Kindern als „sichere Basis“ und „sicherer Hafen“ zur Verfügung zu stehen – tröstend, schützend, ermutigend, Orientierung gebend, aber auch Regeln Grenzen setzend. Der Gedanke einer sicheren Basis ist dabei nicht neu. Das eine sichere Basis und eine sichere Bindung zu den Eltern extrem wichtig für das Kind ist, ist heute unbestritten. Was heute selbstverständlich klingt, hat u.a. Bowlby (2001) mit seiner Bindungstheorie in den 1960er Jahren erstmals bewusst gemacht. Zusammen mit James Robertson und Mary Ainsworth entwickelte er diese Konzeption. Die Bindungstheorie fasst Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung zusammen. Dabei wird belegt, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Hierbei wurde auch der Begriff der „sicheren oder verlässlichen Basis“ geprägt. Fühlt ein Kind sich sicher, geht es von der Bindungsperson weg und erkundet die Umwelt. Ist es dagegen müde, ängstlich, krank oder besorgt, sucht es die Nähe seiner Bindungsperson. Sichere Bindung gilt dabei als Grundvoraussetzung für eine gute kindliche Entwicklung. Omer umschreibt die sichere und verlässliche Basis mit dem Bild eines sicheren Zufluchtsortes und eines sicheren Hafens.
Wir erinnern uns als Elten alle daran wie unsere Kinder anfingen zu krabbeln, versuchten zu stehen und zu laufen und wen sie sich stießen oder umfielen, so wurden sie von uns in den Arm genommen und getröstet. Wir als Eltern waren für unsere Kinder das sichere Festland, welches für sie da war und zu dem sie zurückkehren konnten.
Wir finden den Begriff der sicheren Basis inzwischen aber nicht nur in der Bindungstheorie, der Pädagogik, sondern auch in der Unternehmensführung. Das Buch „Fördern und Fordern, Effektive Führung mit sicherer Basis“ von Kohlrieser und seinen Mitautoren Goldsworthy und Coombe (Coombe, Goldsworthy, Kohlrieser 2013) zeigt, wie man zu einer guten Führungskraft werden kann. Auch hier auf Grundlage einer „Führung mit sicherer Basis.“ Eine „sichere Basis“ kann hierbei eine Person, ein Ort, ein Objekt oder eine Organisation sein, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Zudem ist sie eine Inspirationsquelle, ein Energiespender, der herausfordert und zu Forschungsdrang, Risiko und Wagemut anspornt.
Wir, die Autoren dieses Artikels, sehen die Neue Autorität nicht nur als pädagogisches Thema für Eltern und ihre Kinder, sondern ebenso als ein Thema und Handlungsorientierung in Organisationen. Autoritäre Führung war gestern. Damit Menschen ihre Führungsrolle effizient gestalten können, müssen sie eine neue Form der Autorität finden. Auf der Basis des Konzepts von Haim Omer geht es im zweiten Teil dieses Artikels um die Voraussetzungen für eine optimale Praxis Neuer Autorität auch in (sozialen) Unternehmen sowie auch einer kritischen Betrachtung dieses Konzepts.
4. Voraussetzungen für eine optimale Praxis Neuer Autorität
Wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben hat der israelische Psychologe Haim Omer unter dem Titel Neue Autorität die Begriffspole „Stärke statt Macht, Präsenz statt Distanz, wachsame Sorge statt Hierarchie“ in die pädagogische Diskussion eingebracht.
In diesem Abschnitt wollen wir argumentieren, dass Neue Autorität als pädagogische Form nur erfolgreich sein kann um Kinder und Jugendliche zeitgemäß zu unterstützen, zu helfen, ja zu erziehen, sofern auch die richtige Voraussetzungen erfüllt sind.
Es geht um die persönliche Entwicklung der Kinder, Jugendlichen, Mitarbeiterinnen und der ganzen Führungsstruktur in Unternehmen. „Gibt es wertvolle (zwischen-) menschliche Beziehungen?“ „Gibt es eine oder mehrere sichere Basen?" „Nehmen sie die Angst im anderen wahr?“ „Können sie empfangen und trösten?“ „Und können sie dann herausfordern, sie dazu inspirieren, wieder (mehr) Risiken einzugehen?“
Nur wenn Sie selbst eine sichere Basis hatten, können sie das auch für jemand anderen sein. Deshalb ist es so wichtig, dass die Mitarbeiter/-innen eine sichere Basis sind für die gefährdeten Kinder und Jugendlichen. Ebenso ist es wichtig, dass die Leiter der Institution eine bestimmte Grundlage für die Mitarbeiter/-innen bieten. Aufgrund dieser Voraussetzungen wagen Mitarbeiter/-innen es, riskante, wechselseitige Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen einzugehen und gegebenenfalls deren Versagen ehrlich zuzugeben. Nur so kann Neue Autorität sich entwickeln. Der Unterschied wird durch die weichen Beziehungskriterien bestimmt, die sich ständig weiterentwickeln. Reflexion und Lernen sind daher untrennbar mit der Bildung der Mitarbeiter verbunden. Dies erfordert Zeit und Geduld in einer angstfreien Umgebung, in der Fehler als Chance gesehen werden. Zusammenfassend ist die Kultur des sozialen Unternehmens in der Neue Autorität verwurzelt.
4.1 Neue Autorität in Führungsstrukturen sozialer Institutionen
Die Krise alter Autoritäten hat nach den Familien und Schulen auch die Führungsstrukturen in den (sozialen) Unternehmen erreicht. Wilhelm Geisbauer (2018) zielt auf den Kern gegenwärtiger Herausforderungen: Den souveränen Umgang mit den "weichen Faktoren” (S.22), wie Vertrauen, Intuition, Resonanz, Teamgeist und die Lern- und Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden. Neue Autorität ist Basis und Rahmen jeder positiven Entwicklung in der Zusammenarbeit. Sie ist darum vor allem Beziehungsarbeit, die aus einer gewachsenen und reflektierten inneren Haltung kommt.
Das sind die sieben Elemente der Neuen Autorität in Führung (S.26-34):
„Eine Führungskraft, die Neue Autorität lebt, geht in Beziehung, sucht Nähe, zeigt Interesse und Fürsorge. (Präsenz versus Distanz)
Das Informationsmanagement der Führungskraft kennt keine Tabuzonen, keine selektive Vier-Augen-Kommunikation, sondern sichert durch synchrone Informationsstände die Handlungsfähigkeit des Teams. (Transparenz versus Abschottung)
Die Führungskraft der Neuen Autorität verkörpert Zeitsouveränität, begegnet Turbulenzen und Zeitdruck mit Beharrlichkeit und Geduld. (Beharrlichkeit versus Dringlichkeit)
Der Präsenz der Führungskraft lebt auch im Konfliktfall aus der Position von „Stärke statt Macht“. Wo sie Grenz- und Regelverletzungen anspricht, wahrt sie die Würde des Gegenübers und das konstruktive Miteinander. (Entschiedenheit versus Dominanz)
Da Führungskräfte vor allem sich selbst führen müssen, pflegen sie die persönliche Reflexion und suchen sich dafür professionelle Kommunikationspartner. (Selbstführung versus Kontrolle)
Neue Autoritäten nutzen ihre Schlüsselposition zur Deeskalation in Konflikten. Sie kennen die Dynamik von Wiedergutmachung und Verzeihen zur Wiederherstellung der Integrität des Teams. (Deeskalation versus Eskalation)
Obwohl „ ...es ohne ein Minimum an Hierarchie in einer Organisation nicht geht (S.33),“ hat mit der Neuen Autorität die einsame Führungskraft ausgedient. Sie vernetzt sich zu gegenseitiger Unterstützung mit Gleichrangigen. (Vernetzung versus Hierarchie)“
4.2. Die Aufgaben
Im Alltag gibt es viele Interaktionen von Jugendlichen mit Erzieher, welche von einer Zurückhaltung beim Handeln begleitet wird, zum Beispiel:
Beim Aufstehen lässt die Jugendliche bereits wissen, nicht zur Schule zu gehen
Im Abend wollte der Jugendliche seinem Fernsehprogramm nicht beendeten, weil er ins Bett gehen muss
Beim Heimkehr nach der Schule geht er gleich zu seinem Zimmer und vermeidet die Interaktion mit seinem Mitarbeiter
Zwei Jugendlichen streiten sich heftig wegen Drogenkonsums
Wie lösen die Mitarbeiter solche Situationen? Mit Repression oder Relation? Und wird es effektiv beendet oder wird es ein großer Konflikt? Fühlt der Mitarbeiter sich schüchtern oder kompetent? Sind Kollegen dabei mit Unterstützung oder nicht?
Wir sehen jedes Kind als eine einzigartige Person mit einer einzigartigen Mischung aus angeborenen und erworbenen Eigenschaften. Kinder und Jugendliche im Bereich der Jugendhilfe und Jugendschutz charakterisieren sich meistens in ihrer einzigartigen Mischung mit Entwicklungsstörungen in vielen Bereichen, die zu atypischem Verhalten führen. So sind es schwierige und komplexe Fälle, welche hohe Anforderungen an die (professionellen) Erzieher im Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen stellen. Und das nicht nur einmal, sondern seit Jahren. Die Aufgabe besteht daher darin, die gestörte Entwicklung zu korrigieren und der Jugend eine glücklichere Zukunft zu bieten mit dem wichtigsten Instrument, der Person des (professionellen) Erziehers. Elternschaft ist im Grunde eine ungleiche Beziehung mit einem Muster von Führung und Folgen. Die Beziehung sollte wechselseitig sein und Vertrauen ist die Grundlage für das Folgen.
4.3. Die Führungsfragen
Bei den Mitarbeiter/-innen gibt es häufig Stress und wie bewältigen sie das? Stress - eine Form von Angst- kann als Bedrohung angesehen werden. Die zentrale Idee von George Kohlrieser et al. (2013) ist, dass Menschen eine sichere Basis brauchen, um die defensive Natur unseres Gehirns aus zu schalten. Damit wir uns nicht von Ängsten und Bedrohungen leiten lassen, sondern uns von Chancen inspirieren lassen und Möglichkeiten. Führungskräfte müssen ein sicheres Umfeld schaffen, in dem den Menschen Raum gegeben wird für Entspannung in den angespannten Beziehungen. Dass Mitarbeiter in der Interaktion nicht auf Nein-Serien zurückgreifen, sondern tatsächlich Ja-Serien in die Praxis umsetzen können.
Den Momenten der Wahrheit sind natürlich solche, wenn man Grenzen stellt an das Verhalten von gefährdeten Jugendlichen, wenn es zu einem Machtkampf wird, der hier wirklich verantwortlich ist. Die Emotionen nehmen zu, die Selbstbeherrschung nimmt ab, ein großer Konflikt entsteht. Wie kann diese bedrohliche Interaktion positiv beendet werden, sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt?
Nicht nur einzelne Mitarbeiter/-innen, sondern ganze Teams wissen manchmal nicht, wie sie effektiv handeln sollen mit dem störenden Verhalten der Kinder und Jugendlichen.
Was werden Sie tun, wenn Sie sich ineffektiv und inkompetent fühlen? Suchen Sie allein oder gemeinsam nach einer Rechtfertigung für das falsche Verhalten der Jugendlichen? Oder möchten Sie sich beruflich weiterentwickeln? Und was wird das Thema sein, wenn Neue Autorität die Vision ihres Unternehmens ist im Jugendbereich?
4.4 Effektive Führung mit sicherer Basis
Bei jedem Menschen ist es wichtig, dass beim Mitarbeiter dieser Stress reduziert wird, allein, mit Kollegen oder mit dem Teamleiter oder eine andere Person im Führungsstruktur. Denken Sie an Ihre Kindheit zurück. Was ist passiert, wenn Sie wieder mit ihrem Fahrrad gefallen sind, sich verletzt und das Fahrrad verflucht haben? Hoffentlich gab es einen Elternteil - eine sichere Basis - der Sie empfing, tröstete und Sie nach einiger Zeit aufforderte, es erneut auf dem Fahrrad zu versuchen. Das ist fördern und fordern.
Ihre erste sichere Basis war wahrscheinlich ihre Mutter, ihr Vater, ein Großelternteil oder auch eine andere wichtige Fürsorgeperson. Ihre Beziehungen zu diesen Menschen bilden die Grundlage für das Verständnis Ihrer Persönlichkeit als Erwachsener und als Führungskraft. Der Begriff „sichere Basis“ stammt aus der Forschung zur Bindungstheorie von John Bowlby. Eine Person, ein Ort, Ziel oder Objekt, das ein Gefühl des Schutzes, der Sicherheit und der Fürsorge vermittelt und gleichzeitig eine Quelle der Inspiration und Energie darstellt, die zu Wagemut, Forschung, Risiko und anspruchsvolle Aufgaben anregt. Die stärksten sicheren Basen sind zwar meist andere Menschen.
Wenn Sie verstehen wollen, warum wir alle eine sichere Basis brauchen, sehen Sie sich an, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Sobald eine tatsächliche oder wahrgenommene Gefahr für Leib und Leben auftritt, veranlasst das Stammhirn uns dazu, dass wir uns Veränderungen widersetzen und Risiken vermeiden, um uns selbst zu schützen.
Schutzbedürftige Jugendlichen mit gestörter sozialer-emotionaler Entwicklung brauchen mehr als jeder andere eine sichere Basis. Mitarbeiter, die einen Konflikt durchgemacht haben, benötigen ebenfalls eine sichere Basis um ihre Rolle als Erzieher der Kinder und Jugendlichen danach angemessen erfüllen zu können. Das Bild unten zeigt die Wechselwirkung zwischen den beiden primären Dimensionen einer sicheren Basis: Sicherheit und Risiko. Die Sicherheit zeigt sich in Form der Förderung, während sich das Risiko in Form der Forderung darstellt.
In dem Bild unten ist eine weitere Dimension der sicheren Basis dargestellt. Die Bindung an Menschen und Ziele. Menschen brauchen zwischenmenschliche Bindungen, um Selbstwertgefühl zu entwickeln. Nur so erhalten sie das Gefühl, ihre Existenz zu verdienen und geliebt zu werden.
Eine Bindung an Ziele ist dagegen weniger leicht verständlich. Sie legen ein Ziel fest und verpflichten sich dann dazu, die einzelnen Schritte zu abzuarbeiten, bis sie es erreicht haben.
Im Rahmen dieses Artikels im folgenden einige Beispiele für solche Bindungen an Ziele:
Mitarbeiter Jacob setzte sich das Ziel, eine Beziehung mit vernachlässigten Jugendlichen einzugehen, die Erwachsenen nicht vertrauen. Er möchte vorsichtig und ohne hohe Erwartungen an sie herangehen, zuverlässig sein, Geduld üben, sich nicht entmutigen lassen und sich auf eine lange Zeit der Enttäuschung vorbereiten. Er verabredet sich zweimal pro Woche mit einem Kollegen, um seine Erfahrungen auszutauschen. Auf diese Weise glaubt er, den Fortschritt zu beobachten und neue Energie zu verbrauchen.
Mitarbeiterin Beate urteilt normalerweise sehr schnell, und dies führt häufig zu Streitigkeiten mit Jugendlichen, die sich von ihrer Überzeugung abgelehnt fühlen. Beate hat sich zum Ziel gesetzt, ihr Urteil auszusetzen und zu lernen, zuerst Fragen zu stellen. Es ist ihr klar, dass schnelles Urteilsvermögen eine Beziehung zu ihrer Kindheit hat, in der sie schnell feststellen musste, ob die Situation sicher war. Ihr Talent für eine schnelle Beurteilung ist jetzt ihre Schwäche. Sie hat eine Ausbildung gefunden, in der sie lernt, immer wieder gute Fragen zu stellen. Sie möchte auch lernen, dass Situationen oft nicht schwarz und weiß sind. Es scheint mehr Nuancen zu geben, mehrere Perspektiven, die wahr sein könnten.
Teamleiterin Rosa bleibt in ihrem hierarchischen Verhalten. Sie lebt in den Räumlichkeiten der Jugendeinrichtung und ermutigt ihre Mitarbeiter, sie bei Unsicherheit anzurufen. Sie glaubt, dass dies den Mitarbeitern hilft. Ihr Ziel ist es, sich tatsächlich in ihre Mitarbeiter hineinzuversetzen und dann zu hören, was sie wirklich meinen von ihrem übervorsichtigen Verhalten. Sie ist bestrebt, den Mitarbeitern letztendlich mehr Selbstvertrauen und Unabhängigkeit zu geben.
Direktor Joachim findet es schwierig, in einen Konflikt zu geraten. Er zögert lieber, meidet die Person und wenn der Konflikt zu groß geworden ist, kann er nur seine Rolle als Direktor spielen und den Konflikt auf autoritäre Weise beilegen. Sein Ziel ist es, frühzeitig in Konflikte zu geraten und zu lernen, was es heißt, ein Argument zu haben. Er hat Angst davor. Er vertraut sich seinem Vorstand als seinem Kumpel an, der ihn in Konflikten berät.
Abb.1 (Kohlrieser 2013, S. 31)
Wir betrachten Mitarbeiter, Teamleiter, Direktoren und Vorständen als Führungskräften, die sich allen von autoritär zu neuer Autorität zu entwickeln haben. Im obigen Model von Kohlrieser wird die Bindung an Menschen und Zielen klar angegeben. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass das menschliche Bedürfnis zuerst erfüllt werden muss, dass Sie dort sein können, dass Sie dazu gehören, dass Sie geliebt werden. Wenn nicht, ist die Herausforderung zu groß, um an Ihrem Entwicklungsauftrag zu arbeiten. Dann gehen Sie lieber nicht das Risiko ein, nach dem sogenannten Ort der Not zu suchen.
Diese Beispiele fordern Aus und -Fortbildung / Training und Reflexion als Voraussetzung für die Entwicklung bewährter Verfahren der Neuen Autorität. Aus- und Fortbildung, ist daher ein Risiko, welche die Führungskräfte unabhängig ihre Position in der Organisation, eingehen müssen. Eine sichere Basis ist unabdingbar, um das Risiko zu überwinden.
Sie eliminieren Risiken gemeinsam. Dann wird Bildung ein Interaktionsthema. Dann berühren wir den Transaktionsdiskurs mit Konzepten wie Bonding, Containment und Führung mit sicherer Basis.
Der Psychologe George Kohlrieser geht in seinem Buch "Fördern und Fordern; effektive Führung mit sicherer Basis (2013)" auf das Konzept der sicheren Basisführung ein. Er stellt die Bindung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern in den Mittelpunkt seiner Arbeit mit Führungskräften. Führungskräfte können ihre Mitarbeiter nur dann herausfordern ("wagen"), ihr maximales Potenzial zu erreichen, wenn sie sich gut genug um diese Mitarbeiter kümmern ("Pflege"). Eine sichere Basis definiert Kohlrieser als „eine Person, ein Ort, ein Ziel oder ein Objekt, die ein Gefühl von Schutz, Sicherheit und Fürsorge bietet und eine Quelle der Inspiration und Energie für Wagemut, Erkundung, Risikobereitschaft und Herausforderung bietet (S. 26).“
4.5 Vier Ansätze der Führung
Fördern und Fordern sind die beiden Dimensionen der Führung, die, wenn sie ausgeglichen kombiniert werden, eine sichere Basis ergeben, siehe das Bild unten.
Abb.2 (Kohlrieser 2013, S. 170)
Entlang der horizontalen Achse wird das Ausmaß des „Förderns“ aufgetragen: Sie gibt an, wie stark sich eine Führungskraft auf Beziehungen konzentriert. Entlang der vertikalen Achse wird das Ausmaß des „Forderns“ aufgetragen, also das Niveau der Herausforderungen, die eine Führungskraft anbietet. Die vier sich ergebenden Quadranten repräsentieren vier verschiedene Führungsansätzen. Betrachten wir nun jeden der Ansätze.
Abkapselung
Schwache Förderung + kleine Herausforderung
Innere Stimme: ‚Ich will in Ruhe gelassen werden‘
Zentrales Thema: ABKAPSELUNG.
In diesem Quadranten sind Sie extrem defensiv, risikoscheu und ängstlich und Sie ziehen sich sogar von den anderen zurück. Sie geraten in dieses Fahrwasser, wenn Sie weder fördern noch fordern. Sie haben dann das Gefühl, dass Sie nur noch ‚ein- und aus stempeln‘ und alle anderen können deutlich Ihr Desinteresse spüren. Mit anderen Worten: Sie engagieren sich nicht mehr und ‚haben sich geistig abgemeldet‘.
Verlustvermeidung
Intensive Förderung + wenig Herausforderungen
Innere Stimme: ‚Wir gehen auf Nummer sicher und meiden große Risiken‘
Zentrales Thema: KOKON
Wenn es Ihnen hauptsächlich darum geht, Verluste zu vermeiden, konzentrieren Sie sich stark auf Misserfolge, mögliche Fehler, Sorgen und alles, was schief gehen könnte. Unter Stress wählen Sie diesen Ansatz vielleicht, weil Sie sich sicherer fühlen, wenn Sie von anderer Bestätigung erhalten. Wenn Sie diese Einstellung jedoch länger aufrechterhalten, sind Sie wahrscheinlich zu vorsichtig, haben Angst vor Entscheidungen und vermeiden das Risiko.
Dominanz
Schwache Förderung + große Herausforderung
Innere Stimme: ‚Wer braucht schon andere? Ich kann es alleine besser schaffen‘
Zentrales Thema: KONTROLLE
Wenn Sie auf Dominanz ausgerichtet sind, konzentrieren Sie sich auf Ergebnisse und opfern dabei Ihre Beziehungen. Diesen Ansatz wählt man oft unter Druck, weil es dann ‚leichter und schneller ist, alles selbst zu erledigen‘. Wenn Sie diesen Ansatz aber dauerhaft einsetzen, lösen Sie sich wahrscheinlich irgendwann von Ihren Jugendlichen oder Mitarbeiter. Statt sich auf die Menschen zu konzentrieren, denken Sie -zu mindestens fast- nur noch an Zahlen und Ergebnisse. Die Welt sehen Sie nur in Schwarz und Weiß.
Das ‚Spiel auf Sieg‘
Intensive Förderung + große Herausforderungen
Innere Stimme: ‚Zusammen können wir Großes erreichen‘
Zentrales Thema: MUT
Für das ‚Spiel auf Sieg‘ müssen Sie die für den Erfolg nötigen Risiken auf sich nehmen. Wenn Sie die Bindungen zu Ihren Jugendlichen oder Mitarbeiter pflegen, während Sie gleichzeitig die Zusammenarbeit auf hoch gesteckte Ziele fokussieren, spielen Sie auf Sieg und demonstrieren daher Führung mit sicherer Basis. Sie nehmen bedrohlichen und defensiven Gefühlen so gut es geht aus der Gleichung heraus. Sie sind immer präsent, fordern mit ungeschminkten Rückmeldungen und hohe Erwartungen Heraus. Die Jugendlichen oder Mitarbeiter fühlen sich frei, neue Dingen zu erforschen, kreativ zu sein und Risiken auf sich zu nehmen.
Dieser Ansatz holt das Beste aus einer Führungspersönlichkeit heraus und entfaltet gleichzeitig die stärkste und tiefste Wirkung auf die Gefolgsleute ( d.h. die Mitarbeiter/-innen vor Ort ) und auf die ganze Einrichtung/ Unternehmen.
5. Epilog
Präsenz wird von Omer als Grundlage und Quelle einer Autorität verstanden, die nicht als Eigenschaft begriffen wird, sondern als eine Haltung. Das Autoritätsverhältnis erscheint grundsätzlich zweiseitig, da die wahrgenommene Autorität der Anerkennung anderer bedarf. Gleichwohl ist das Handeln dieser Personen offensichtlich nicht abhängig von der Zustimmung der anderen, sondern entspringt einer eigenen inneren Überzeugung, die zugleich Sicherheit ausstrahlt. Nach Omer lässt sich Präsenz beschreiben als die Bereitschaft, im Leben eines Kindes oder Jugendlichen eine Rolle spielen zu wollen.
Neue Autorität ist damit eine pädagogische Form welche hohen Anforderungen stellt an die Differenzierung der Persönlichkeit des Mitarbeiters oder Mitglieds der Führungsstruktur. Diese persönliche Entwicklung ist niemals vollständig. Das maximal zu erzielendem Ergebnis ist die relative Autonomie. Jugendlichen, Mitarbeiter, Teamleiter, Direktor und Vorstand bleiben voneinander abhängig. In der späteren Entwicklung besteht das Bedürfnis und die Notwendigkeit der Bindung weiterhin und diese Funktion wird durch Beziehungen zu wichtigen anderen, Gruppen, zu denen man gehört, durch Grenzen, Gesetze und Rahmenbedingungen, aber zum Beispiel auch durch die Kultur von das sozialen Unternehmen. Es ist wichtig, dass für die Entwicklung zu guten Praxis der Neuen Autorität dieser persönlichen Entwicklung durch zeitnahes und aussagekräftiges Feedback in der Arbeit genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Voraussetzung ist, dass es in der Nähe sichere Basen gibt, die liebevoll sind und immer nach neuen Herausforderungen suchen. Das können auch externe Coaches sein, die an dieses sicheren Basis Profil erfüllen. Gelingt der Transfer dieses Konzepts von Omer aus der Pädagogik auch in den Alltag von Führungskräften wie Kohlrieser fordert ? „Die Stärke von “Führen mit Neuer Autorität” liegt in der breiten Anlage des Konzepts, das der Komplexität gegenwärtiger Führungsarbeit entspricht. Neben den. o.g. Modellen bietet Geisbauer eine Fülle bemerkenswerter Ansätze wie z.B. Vergebung, Resonanz, Salutogenese, Open Dialogue, der Zukunftsentwurf nach K. I. Berg und andere. Er zielt auf einen kontinuierlichen, lebenslangen Prozess des Lernens, Handelns und der Reflexion (zitiert nach Biehl-Herzfeld).“ Einrichtungen, die Ernst machen mit dem Konzept und Transfer der Neuen Autorität’ brauchen natürlich baldigst eine „ Anleitung c.q. Implementierung . Wir sind gespannt, wie die Diskussion um „ neue Führung „ in Zeiten von digital leadership und höherer Selbstorganisation in sozialen Unternehmen weitergeht. Taugt das Bild vom Fels in der Brandung noch, fragt Geisbauer? Wir werden sehen, ob und wie ‘Neue Autorität’ einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten kann.
6. Diskussion
Mit kritischem Blick verfolgen wir die Entwicklungen in der Jugendhilfe und Schule. Besonders das Verschwinden systemischer Grundannahmen und Haltungen im Denken sowie in der Praxis löst bei uns Sorgen aus.
In Zeiten, in denen die Ökonomisierung, die Bürokratisierung und Pseudo-Therapeutisierung der Arbeit im Vordergrund steht (vgl. hierzu Grigat, Hesselink, Overduin 2020, S.222 ff.), treten ursprüngliche Haltungen, Grundannahmen und Zielsetzungen der Systemik in casu einer systemisch geprägten (Heim) Pädagogik immer weiter in den Hintergrund.
Aus systemischer Sichtweise stellen Beratung und Therapie „...weder eine unmittelbare wissenschaftsgeleitete Anwendung systemtheoretischer Konzepte noch einen rein handwerklichen Satz von Techniken dar (Schlippe, Schweitzer 2002, S.116).“ Inzwischen werden aber vor allem in der Erziehung systemische Methoden losgelöst von den Grundannahmen und Haltungen praktiziert. Erwartungen der Auftraggeber (sprich Jugendämter), sind oftmals von einem Sparzwang geprägt und mit dem Wunsch nach schnellen Erfolgen verbunden. Aber auch Eltern wünschen sich in ihrer gefühlten Überforderung schnelle Hilfe.
Dabei sind Grundannahmen/Haltungen und Methoden eigentlich eng miteinander verbunden.
Die Kritik dieses Abschnitts richtet sich an eine Anwendung der Neuen Autorität, vor allem des gewaltlosen Widerstandes, losgelöst von wichtigsten systemischen Begriffe wie Auftragsklärung, Allparteilichkeit und Neutralität, Zirkularität sowie Ressourcen- und Lösungsorientierung (Schlippe, Schweitzer 2002, S. 116 ff.). Im folgenden werden diese kurz referiert.
a) Auftragsklärung
Die Klärung des Auftrags ist oft erster Bestandteil zu Beginn von Beratungen und Therapien. Die Ziele der Hilfe sollen so eruiert und Handlungsschritte festgelegt werden. Auch das Erlernen des gewaltlosen Widerstandes ist inzwischen oft Thema in Bereichen der Jugendhilfe, aber auch immer mehr in Schulen.
Aus systemischer Sichtweise schafft Auftragsklärung eine für alle erkennbare Transparenz. Sie geschieht dabei in einem Wissen, der von der Nicht-Instruierbarkeit von Menschen ausgeht. Der systemische Ansatz geht von einem Menschenbild aus, in der der Mensch der beste Experte für sich selbst ist. Zentrale Annahme ist dabei, dass Probleme nicht als Störung eines einzelnen Menschen zu begreifen sind, sondern als Folge einer Störung des Menschen im Umfeld, also seines Systems. Die Wechselwirkungen zwischen Menschen stehen somit im Vordergrund. Der Systemiker/-in verzichtet auf geplante und gezielte Interventionen. Er begegnet den Menschen mit respektvoller Neugier. Die Systemische Beratung und Therapie hat eine Vielzahl von Methoden hervorgebracht (Systemische Aufklärungsmöglichkeiten wie Genogrammarbeit, Familienbrettaufstellungen, Familienkonferenzen, lösungsorientierte Gesprächsführungen wie das zirkuläre Fragen usw.), die geeignet sind, Neugier und Interesse für Veränderungsprozesse zu wecken. Beratung oder Therapie, die sich ausschließlich auf den Teil des gewaltlosen Widerstandes bezieht, kann hierzu im Widerspruch stehen.
b) Allparteilichkeit und Neutralität
Allparteilichkeit meint die Fähigkeit für alle im System gleichermaßen Partei zu ergreifen. Damit verbunden ist der Begriff der Neutralität. Neutralität kann nur dann funktionieren, wenn dem Engagement für eine Seite, beispielsweise der Elternseite, gleichzeitig Engagement auf der anderen Seite, in diesem Fall der Kinderseite, erfolgt. Das Konzept der Neuen Autorität gibt aber nur einseitig der Elternseite Hilfe ohne gleichzeitig die Kinderseite zu stärken. Aus diesem Grund benötigen Kinder und Jugendliche parallel Begleitung und Unterstützung.
c) Zirkularität
Der Begriff der Zirkularität hat die Bedeutung der Kreisförmigkeit. Er steht im Gegensatz zur Linearität. Ein einfaches Denken in Ursache und Wirkung wird ablehnt. Aus systemischer Sichtweise geht es um eine Beschreibung, welche das Denken und Handeln von Menschen vielmehr in einem Prozess eines Kreislaufs aufzeigt.
In der Praxis der Jugendhilfe ist aber ein Trend zu linearen, einfachen Lösungsideen festzustellen. Dies ist auch, wenn man das Konzept des gewaltlosen Widerstandes alleine betrachtet, auch bei der Neuen Autorität so. Somit vermittelt dies Konzept schnell eine Vorstellung einer einfachen Art von Problemlösungsstrategien für Eltern und Lehrer. Eltern und Lehrer dominieren und zeigen „wo es lang geht.“
d) Ressourcenorientierung/Ressourcenmobilisierung/ Vernetzung
Die Orientierung an den Ressourcen der Menschen ist wichtiger Bestandteil des systemischen Denkens. Diese Denkweise steht im Widerspruch zur Defizitorientierung, der Pathogenese und problemorientierten Verfahren. Der Systemimker geht davon aus, dass der Mensch über genügend eigene Ressourcen verfügt, um Lösungen für veränderungsbedürftige Punkte zu finden. Durch das Erkennen der eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Stärken, aber auch der Ressourcen im Umfeld (Ressourcenanalyse) entstehen bei den Adressaten/-innen der Arbeit neue Sichtweisen, Denkmuster und Vorstellungen. Im Rahmen der Arbeit werden diese Ressourcen wieder geweckt (Ressourcenaktivierung). Die Neue Autorität suggeriert hingegen ein Bild von Kindern und Jugendlichen als aggressiv und übermächtig (teilweise als Tyrannen), welche für Eltern und Lehrer eine große Herausforderung darstellen. Die Ressourcenorientierung bzw. ressourcenorientierte Arbeit knüpft aber vielmehr an den Gedanken an, dass Kinder und Jugendliche über ganz eigene Stärken und Potentiale verfügen, die sie fähig machen aktuellen Schwierigkeiten zu begegnen. Das Kind bzw. der Jugendliche wird dabei von seinem professionellen Helfer gezielt dazu ermutigt, seine ganz eigenen Selbsthilfekräfte zum Lösen der veränderungsbedürftigen Punkte in sich zu entdecken und zu aktivieren.
e) Lösungsorientierung
Bei der Lösungsorientierung gilt von Anfang die Konzentration auf Lösungen und nicht auf das Problem. Der Blickwinkel in der Arbeit liegt so von Anfang an auf der Errichtung von Lösungen.Gedanke ist dabei, dass jeder Mensch, oder auch jedes System, über Ressourcen (s.o.) verfügt, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt. Grundlegend ist die Annahme, dass Problem und Lösung nichts mit einander zu tun haben ! Kinder und Jugendliche werden im Konzept der Neuen Autorität aber sehr problematisch beschrieben.
In der Praxis bemerken wir immer mehr, dass es oft nicht mehr um das Finden eigener Lösungen geht und einer Wertschätzung der Lösungsideen der Adressaten/-innen der Arbeit, sondern vielmehr um die Ideen der sogenannten Fachkräfte. Konzepte, wie der Gewaltlose Widerstand, werden Eltern und Lehrern/-innen von den Fachkräften präsentiert und anschließend umgesetzt. Dies ist nicht das, was wir unter Lösungsorientierung verstehen.
Es erscheint uns an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass Konzepte wie die Neue Autorität eingebunden sollten in eine systemische Arbeitsweise mit den Beteiligten. Dabei gelten die Grundannahmen und Haltungen der Systemischen Beratung und Therapie als Grundlage. Am Wichtigsten erscheint uns dabei die Perspektive des Kindes oder Jugendlichen in die Beratung oder Therapie mit einzubeziehen, wie es systemische Arbeit auch sonst tut. Hier muss das Konzept noch weiterentwickelt werden.
Zeigen Kinder oder Jugendliche keine Bereitschaft mehr zur Teilnahme an pädagogischen Gesprächen, Hilfen und Kontexten, andere Konzepte nicht mehr wirksam sind, so kann dann das Konzept der Neuen Autorität und der gewaltlose Widerstand eine durchaus hilfreiche Methode sein. Einseitige Maßnahmen werden im Übrigen auch dann notwendig, wenn eine Gefährdungslage durch Kinder oder Jugendliche vorliegt. Omer und Schlippe sprechen nicht umsonst davon, dass sie, wenn sie verkürzt von gewalttätigen Kindern sprechen, die „ … verfahrenen Beziehungskonstellationen, und zwar in ihrer gefährlichsten und bedrohlichsten Form...“ meinen: „Wenn sich der Teufelskreis aus schwindender elterlicher Präsenz und kindlicher Dominanz in gewalttätiges Handeln hinein eskaliert hat (Omer. Schlippe 2010, S.28).“ Eine Gefährdungslage bezieht sich also genauso auch auf Erwachsene, die durch fehlende alternative Ideen auf Gewalt zurückgreifen. Man kann davon ausgehen, dass weniger ohnmächtige Eltern sich weniger verirrt in ihrem Erziehungsverhalten zeigen und wenn sie Alternativen zur eigenen Gewalt haben, Kinder und Jugendliche sich wieder leichter an diese binden können.
7. Zum Schluss
Der Begriff der klassischen Autorität hat ausgedient. Somit macht auch der klassische Führungsbegriff keinen Sinn mehr. Das was früher Führung hieß, kann nach dem Konzept der Neuen Autorität auch durch den Begriff Präsenz ersetzt werden. Danach haben Eltern die Aufgabe, ihren Kindern als „sichere Basis“ und „sicherer Hafen“ zur Verfügung zu stehen – tröstend, schützend, ermutigend, Orientierung gebend, aber auch Grenzen setzend.
Schaut man in den Bereich der Unternehmensführung, so findet man auch hier einen ähnlichen Ansatz.
Omer fordert einen Paradigmenwechsel mir weitreichende Folgen nach Innen und nach Aussen.
Nicht zuletzt ist aus unserer Sicht auch weiterhin dringend eine Analyse und Aufarbeitung der „unsichtbaren Machtpraktiken“ der Jugendhilfe notwendig! Wichtig wäre es, dass alle die so final formulierte (Grund-) Werte und Rechte der Kinder und Jugendlichen in den Hochglanzflyer der Einrichtungen das Alltagshandeln der Pädagogen/-innen und Führungskräfte dominiert und folgende Fragestellungen in den Teamsitzungen und Strategiebesprechungen leitend sind:
Was heißt im pädagogischen Alltag Sicherheit? Wie vermittelt, wie schafft man die? Was heißt Würde? Wie zeigt sich würdevolles Handeln? Wie setzen wir pädagogische Impulse, die Wachstum anregen? Wie und wo gebt ihr pädagogisch Freiheit? Wo sind Grenzen, fachlich und persönlich? Wie verhalten sich dann z.B. Wachstum, Freiheit und Grenzen zueinander? Was heißen diese Werte für die KollegInnen untereinander? Was heißen diese Werte für jeden selbst?
Literatur
Biehl-Herzfeld, J.: https://www.herzfeld-coaching.de/wie-geht-fuehrung-mit-neuer-autoritaet/
Coombe D., Goldsworthy, S., Kohlrieser, G.: Fördern und Fordern. Effektive Führung mit sicherer Basis. Wiley-VCH, 1. Auflage, 2013.
Das Schweizer Eltern Magazin Fritz+Franzi: https://www.fritzundfraenzi.ch/uber-uns/fritz-franzi/das-schweizer-elternmagazin-fritz-franzi, 18.03.2019.
Das Schweizer Eltern Magazin Fritz+Franzi: https://www.fritzundfraenzi.ch/uber-uns/fritz-franzi/das-schweizer-elternmagazin-fritz-franzi, 02.02.2020.
Geisbauer, W.: Führen mit neuer Autorität. Stärke entwickeln für sich und das Team. Carl-Auer, Heidelberg, 2018.
Grigat, R., Hesselink, J., Overduin, P.: Das lebensweltorientierte Präsenzmodell als Paradigmawechsel in der Jugendhilfe? EREV (Hrsg.), Schöneworth, Hannover, Heft 4, 2020, S. 216-225.
KKH, Forsa: https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/eltern-unter-strom--wenn-der-alltag-an-der-seele-nagt
Omer, H., Schlippe, A.: Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Vandenhoeck & Ruprecht, 5. Auflage, 2010.
Omer, H. Schlippe, A.: Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. ››Elterliche Präsenz‹‹ als systemisches Konzept. Vandenhoeck, Göttingen, 11. Auflage, 2017.
Schlippe, A.v., Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Vandenhoeck, Göttingen, 8. Auflage, 2002.
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