Ralf Grigat, Greven (D); Jan Hesselink, Ootmarsum (NL); Piet Overduin, Voorhout (NL)
Erzieher:innen, Sozialpädagogen und -pädagoginnen in der Jugendhilfe sowie ihre Leitungspersonen erarbeiten seit vielen Jahren einen passenden Umgang und eine Herangehensweise mit dem Problemverhalten von Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen. Sehr oft erfahren wir in unseren Supervisionen und Coachings mit Erzieher:innen und Sozialpädagogen und -pädagoginnen etwas von ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht in Bezug auf Handlungsorientierungen. Sie beschreiben uns das destruktive Verhalten von Kindern und Jugendlichen, das durch niedrige Frustrationstoleranz, Aggressionen, Gewalt, Drogenmissbrauch, Schulverweigerung oder Weglaufen gekennzeichnet ist. Hierfür einen professionellen Umgang zu finden, stellt eine enorme Herausforderung dar. Die zentralen Fragen lauten oft: Was kann getan werden, wenn Kinder und Jugendliche und auch wir, die Fachkräfte, in der Praxis aneinander scheitern? Was ist zu tun, wenn Heranwachsende unseren pädagogischen Bestrebungen und Interventionen automatisiert mit einem inneren Nein begegnen und rebellieren? Es war Haim Omer, der in seiner Arbeit mit verhaltensschwierigen Kindern und Jugendlichen in Israel eine Sichtweise und ein Instrumentarium entwickelte, welches vielleicht eine Antwort liefert, nämlich das Konzept der Neuen Autorität (Omer/von Schlippe 2010, 2017; Grigat/Hesselink/Overduin 2021).
1. Einleitung
Neue Autorität ist eine Haltung, die in den oben beschriebenen Kriseninterventionen jedem und jeder hilft, ohne Vorherrschaft, Unterdrückung und Beziehungsabbrüche mit herausforderndem Verhalten umzugehen. Hierbei geht es um die Stärkung der professionellen Präsenz im Arbeitsalltag.
Neue Autorität ermöglicht des Weiteren eine respektvolle Beziehungskultur, fördert Entwicklungsprozesse und trägt dazu bei, dass Kinder und Jugendliche in Wohngruppen verbleiben können. Damit wird Neue Autorität zur gelebten Inklusion. Die Haltung der Neuen Autorität basiert auf einer Stärke, die sich durch beharrliche Beziehungsarbeit ausdrückt und auf die Ausübung von Macht- und Gewaltstrukturen verzichtet. Durch systemische Sichtweisen und Interventionsmöglichkeiten der Haltungs- und Handlungsaspekte der Neuen Autorität können Aufgaben und Herausforderungen im Alltag in achtsamer, verantwortungsvoller Haltung und wachsamer Sorge bewältigt werden. Präsenz und Beziehung stehen im Zentrum der Neuen Autorität. Die Stärke der Erwachsenen kommt von innen. Präsenz und Beziehung in Verbindung mit wachsamer Sorge sind die Quellen einer zeitgemäßen Autorität (vgl. Brunner 2020).
Neue Autorität ist aber nicht nur eine Haltung, es geht in diesem Konzept auch um handwerkliches und methodisches Können, um das Verhalten atypischer Kinder und Jugendlicher zu verstehen und effektiv darauf zu reagieren. Bereits 2020 und 2021 haben wir uns in den EREV-Fachzeitschriften Evangelische Jugendhilfe 4/2020 und 3/2021 mit den Themen Präsenz und Neue Autorität auseinandergesetzt, damals hauptsächlich anhand von Beispielen der ambulanten Hilfen zur Erziehung. Später übertrugen wir das Konzept auf Führungskräfte. Diesmal bringen wir das Konzept in den Zusammenhang mit der stationären Jugendhilfe. Der Beitrag verbindet dabei das Konzept der Neuen Autorität mit wichtigen Grundannahmen der Präsenztheorie und der System- und Bindungstheorie.
Nach einem kurzen theoretischen Teil zur Einführung in das Thema sollen anhand von Beispielen aus der Praxis kreative Umsetzungsmöglichkeiten erarbeitet und vorgestellt werden. Da unserer Meinung nach die Umsetzung von Techniken im Erziehungsalltag allein nicht ausreicht, widmen wir uns in einem weiteren Teil der Umsetzung des Konzepts für die Gesamtinstitution. Ein kritisches Resümee schließt den Artikel ab.
2. Unterschiede zwischen Traditioneller Autorität und Neuer Autorität
Der Begriff Autorität wird gesellschaftlich zumeist im negativen Sinn aufgefasst, vor allem in Erinnerung an die sogenannte autoritäre Erziehung. Daher ist Autorität in der Erziehung heutzutage verpönt und es wird versucht, sie bei den angewandten Erziehungsmethoden zu vermeiden. Die Neue Autorität grenzt sich hiervon ab. Ihr Ziel ist es, dass die Erziehungsberechtigten ihre verloren gegangene Autorität gegenüber dem Nachwuchs zurückgewinnen, ohne sich dabei auf Machtkämpfe einzulassen. Strenge, Gehorsam und Disziplin – Attribute, die die autoritäre Erziehung kennzeichnen – werden vermieden. Die folgende Gegenüberstellung soll die grundlegenden Unterschiede zwischen Traditioneller Autorität und Neuer Autorität herausstellen und aufzeigen, worauf sie gründen (vgl. Berliner Institut für Soziale Kompetenz & Gewaltprävention 2012).
Die traditionelle Autorität setzte auf: | Die Neue Autorität setzt auf: |
Furcht, Distanz und Angst Das Autoritätsverhältnis erlaubte keineNähe, es gründete auf Respekt im Sinne, dass die Pädagogen kritiklosen Gehorsam forderten. Kinder und Jugendlichen sind verantwortlich für Eskalationen. | Präsenz und Nähe Sie wird erfahren, wenn der Pädagoge die Botschaft vermittelt: »Ich bin da und ich bleibe da, komme da was wolle!« Indem er sich mit seinen Werten und Überzeugungen positioniert, erfüllt er für das Kind oder den Jugendlichen einewichtige »Ankerfunktion« und damit eine Bindungsfunktion. Die sogenannte »wachsame Sorge« ist laut Omer die stärkste Vorhersage für eine positive Entwicklung des Kindes/Jugendlichen, weil sie deutlich macht: »Du bist uns wichtig!« |
Kontrolle und Gehorsam Der Pädagoge fürchtet seine Autorität einzubüßen, wenn das Kind / der Jugendliche nicht gehorcht. Der Grad der Autonomie des Kindes nimmt mit zunehmendem Kontrollgehorsam ab. | Selbstkontrolle Der Pädagoge kann nur sein eigenes Verhalten bestimmen, nicht das des Kindes/Jugendlichen. Er ist jedoch autorisiert, Maßnahmen zu ergreifen, und nimmt seine Befugnisse verantwortlich war. Dies hat mit Selbstkontrolle zu tun. Das Verhalten des Kindes/Jugendlichen kann nur inspiriert werden, nicht kontrolliert. Der Pädagoge agiert, weil es seine Pflicht ist, die Verantwortung für das Kind / den Jugendlichen zu tragen – er hat keine andere Wahl! |
Die traditionelle Autorität setzte auf: | Die Neue Autorität setzt auf: |
Hierarchie und Machtgefälle Der Pädagoge beruft sich auf seine Position und seinen (höheren) Status. Er handelt nicht selten – aus seiner Sicht – im Alleingang. Hilfe anzunehmen wird als Schwäche bewertet. | Netzwerk statt Einzelkämpfertum Zu stark isoliertes Vorgehen erzeugt oft ein Gefühl der Hilflosigkeit. Jede Autoritätsperson steht in Beziehung mit einem autorisierenden Netzwerk, zum Beispiel: Kollegen, Leitung, Jugendbehörde, Schule etc., dessen Repräsentant sie ist, und ist daher befugt, die in der Gemeinschaft geltenden Regeln einzufordern. Durch diese Vernetzung werden die Kinder/Jugendlichen besser in ihre Lebenswelt integriert. Der »Täter« wird nicht kriminalisiert, sondern durch geleistete Wiedergutmachung rehabilitiert und wieder in die Gemeinschaft eingegliedert. |
Vergeltungspflicht und Machtkampf Der Pädagoge sieht sich bei auffälligem Verhalten zwecks Demonstration seiner Autorität zu Sanktionen veranlasst. Zur Wahrung seiner Autorität muss er sich durchsetzen. Dies hat bei heutigen Kindern/Jugendlichen einen Machtkampf zur Folge, der häufig in eine Eskalation mündet. Zudem wird ein verlorener Machtkampf auf beiden Seiten als Gesichtsverlust empfunden. | Eskalationsvorbeugung und Deeskalation Der Pädagoge positioniert und verankert sich ruhig und sicher (»Stoßdämpferhaltung«). Indem er einen Machtkampf vermeidet, trägt er zur Deeskalation der Situation bei und hilft beiden Seiten das Gesicht zu wahren. |
Immunität gegenüber Kritik Die Autoritätsperson kann aus Angst vor Gesichtsverlust keine Fehler eingestehen und lässt sich nicht »in die Karten schauen«. | Transparenz und Veröffentlichung Auffälliges Verhalten wird an die Öffentlichkeit gebracht, ohne den Betroffenen anzuprangern oder zu beschämen, im Sinne einer Berichterstattung. Diese Transparenz dient dem Schutz der »Opfer« (zum Beispiel bei Mobbing) und der allgemeinen Sicherheit. |
Die traditionelle Sicherheit setzt auf: Dringlichkeit. Maßnahmen und Konsequenzen dulden keinen Aufschub. Der Pädagoge muss sofort reagieren. Dies führt oft zu impulsiven, überzogenen Reaktionen. | Verzögerung und Beharrlichkeit Der Pädagoge muss nicht sofort Maßnahmen ergreifen. Indem er sie ankündigt (»Ich akzeptiere dieses Verhalten nicht und werde mich mit XY beraten und Maßnahmen überlegen ...«) und »vertagt«, gewinnt er Zeit und Handlungsspielraum für eine gute Lösung. Die Pädagogen bleiben dran und kommen darauf zurück. Das Motto ist: (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist.«). Der Vielfalt des Kindes/Jugendlichen wird Zeit und Raum gegeben, sodass auch die positiven Stimmen wieder zur Geltung kommen können. |
3. Das Geheimnis der Neuen Autorität: Präsenz, Anker sein und sichere Bindung geben
Das entscheidende Kriterium der Neuen Autorität besteht darin, dass Erwachsene sich unabhängig machen vom Verhalten der Kinder. Dies gelingt nur, wenn die Fachkräfte weniger die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen und mehr sich selbst in den Blick nehmen (vgl. Wiebenga/Bom 2022).
Omer postuliert, dass die Fachkräfte in der Jugendhilfe ihre Aufmerksamkeit eher auf das eigene erzieherische Verhalten, ihre Verantwortung und ihre Rolle in der Eskalationsdynamik richten sollten. Anstatt das Problemverhalten der Kinder und Jugendlichen ändern zu wollen, sollten die Fachkräfte ihre eigene professionelle Präsenz auf Sicherheit und Beziehung und deren Verinnerlichung überprüfen, damit die Heranwachsenden erfahren, dass es eine fortwährende Begleitung gibt, welche bereit ist, in ihrem Leben eine Rolle zu spielen (vgl. Körner/Lemme 2011).
Nach Omer (Berliner Institut für Soziale Kompetenz & Gewaltprävention 2012) lassen sich folgende vier Grundhaltungen der professionellen Präsenz identifizieren:
Physische und geistige Präsenz: Ich bleibe da und halte es aus, bleibe ausdauernd und hartnäckig, statt mich abzuwenden!
Handlungsebene: Ich verfüge über persönliche Kompetenzen! Ich kann (wieder) handeln! Ich habe keine Angst! Ich schreite gelassen ein und lasse mich nicht provozieren! Ich muss nicht gewinnen, ich kann Fehler machen, ich kann sie später beheben!
Überzeugungsebene: Das, was ich mache, ist aus meiner Sicht richtig! Ich bin überzeugt davon! Ich kenne meine Grenzen!
Systemische Ebene: Ich bin nicht allein! Ich kann bei Bedarf oder im Notfall auf soziale Unterstützung zurückgreifen! Dazu gehören etwa Kollegen, Eltern oder Freunde der Kinder/Jugendlichen.
Die Botschaft bleibt: „Du bist so wichtig für mich, für uns als Team, für uns als Institution, für uns als Netzwerk, ja als Eltern, dass wir alles tun, was in unserer Macht liegt, um dich vor destruktivem Verhalten zu bewahren, sei es Aggressivität, Schule schwänzen oder Delinquenz.“
Dreh- und Angelpunkt der Neuen Autorität ist also eine vorsorgliche, verbindende Form der oben beschriebenen Präsenz.
Diese basiert einerseits auf dem Grundprinzip der Ankerfunktion. Der Anker ist dabei eine sichere, wachsame Position von Erziehung, die Strukturen und Regelwerke vorgibt.
Andererseits betonen Omer und Streit (2019, S. 17) für die Erziehung die große Bedeutung einer sicheren Bindung. „Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Vermittlung des Gefühls, immer für die Kinder da zu sein und so ihr Urvertrauen zu fördern.“ Dabei soll die Familie – was aus unserer Sicht auch für eine Wohngruppe gilt – einen sicheren Hafen für die Kinder und Jugendlichen darstellen (vgl. auch Grigat/Hesselink/Overduin 2021, S. 181). Die Leitsätze für diesen Hafen lauten: „Ich bin immer für dich da. Du kannst immer zu mir zurückkommen, um aufzutanken, um dich zu erholen oder trösten zu lassen. Diese Gewissheit gebe ich dir.“ „Der Hafen sollte so angelegt sein, dass er Booten Schutz bietet, sie aber auch herausfahren und Erfahrungen machen lässt“ (Omer/Streit 2019, S. 17).
Dabei können sie sich sicher sein, wieder in den sicheren Hafen zurückkehren zu können.
Einblicke in die Praxis des Konzepts der Neuen Autorität finden sich im Einleger dieser Ausgabe als TIPP mit vier Beispielen zum praktischen Herausnehmen für den Alltag.
4. Ausblick: Verbindende »Neue Autorität« als Organisationsvision der stationären Jugendhilfe
Die Einführung und Umsetzung der Neuen Autorität wirkt sich auf die gesamte Organisation der stationären Jugendhilfe aus und erfordert daher eine gut durchdachte Change-Strategie.
Change-Strategie:
Die Change-Strategie bewirkt Veränderungen in der gesamten Einrichtung und wirkt sich darüber hinaus in den Wohnvierteln und in der Gemeinde sowie den weiteren Hilfsinstitutionen aus und prägt zudem die Elternzusammenarbeit.
Von hierarchischer Autorität zur neuen Autorität ist es ein großer Schritt im Denken, Handeln und in der Struktur, welche hohe Anforderungen an die Change-Strategie stellt. Die veränderten Umstände wirken sich nachhaltig auf die Umsetzungspraxis aus.
Erfahrungen in den Niederlanden und der Schweiz deuten darauf hin, dass bei der Umsetzung des Konzepts der Neuen Autorität die Leitung der Einrichtung auf allen Ebenen der Institution eine wesentliche Rolle spielt. Je fundierter sich die Leitung für die Einführung der Neuen Autorität in ihrer Institution – praxis- und/oder evidenzbasiert – einsetzt, umso erfolgreicher gelingt die Umsetzung.
In den Niederlanden haben wir nach Anpassung der Struktur und der Strategie, gefolgt von den Lern- und Entwicklungsprozessen mit Mitarbeitenden, Teams und Leitungskräften, mindestens zwei Jahre für die Reflexion der Praxis und die Suche nach alternativen Interventionen benötigt. In diesem Zeitraum wurden die Teams mit dem Modell vertraut gemacht und konnten nach einiger Zeit die Änderungen selbst vornehmen.
Anschließend haben wir festgestellt, dass dieser Change-Prozess mehrere Erfolgsfaktoren hervorbringt:
Obwohl eine Innovation mit einem Mitarbeitenden beginnt, ist er oder sie allein nicht in der Lage, Neue Autorität nachhaltig zu erreichen, denn: „Man braucht ein ganzes Dorf.“
Die Einstellung und das Handeln im Team und in der gesamten Organisation müssen methodisch übereinstimmen mit den Handlungen der Jugendlichen und daran auch gemessen werden. Diese Kongruenz ist ein sehr wichtiger Erfolgsfaktor.
Die hierarchische Struktur und Kultur müssen verlernt und durch die Prinzipien der Neuen Autorität ersetzt werden.
Damit haben wir mehrere Fokuspunkte im Change-Prozess. Der Prozess durchläuft die Ebenen von den Mitarbeiter:innen bis hin zum Vorstand. So entsteht Schritt für Schritt eine neue Kultur bei jedem Mitarbeitenden, in jedem Team und letztendlich in der gesamten Organisation.
Was bedeutet das nun für das Team und die Teamarbeit?
Änderungen für das Team:
In der stationären Jugendhilfe ist die Qualität des Teams das wichtigste Instrument in der Erziehung von Jugendlichen. Besonders die Einheit von Denken und Handeln ist wichtig. Das ist bei Eltern schon schwierig, geschweige denn in einem Team von sechs bis acht Mitarbeiter:innen, wird jedoch von pädagogischen Fachkräften erwartet.
Es bedarf mehrerer Schritte:
Erstens müssen die Teammitglieder sich mit dem Konzept der Neuen Autorität vertraut machen und sich ihr verpflichten, denn für die Mitarbeiter:innen und die Jugendlichen ergeben sich einschneidende Änderungen, weil bestehende Routinen nicht mehr funktionieren und deswegen aufgegeben werden sollten. Auf dem Weg von hierarchischer Autorität zu Neuer Autorität ändert sich der Umgang mit sogenannten schwierigen Jugendlichen ebenso wie die Struktur, die Kommunikation und die Kultur. Das gegenseitige Verhalten muss angepasst werden, so auch die zugrunde liegenden Annahmen und Überzeugungen, zum Beispiel zur Frage, welche bisherigen Arbeitsschritte wie Diagnosen und routineartige Hilfeplansitzungen hinterfragt werden können, ja sogar ob die Art der Kommunikation – auch verschriftlicht – zur Denkweise der Neuen Autorität passt.
Zweitens geht es um Kongruenz. Um Kongruenz in den Beziehungen mit Jugendlichen und im Team zu erreichen, stellt sich zunächst die Frage: Ist eine Teamleitung für das Konzept der Neuen Autorität geeignet? Eigentlich nicht.
Viele Teamleiter:innen erfüllen ihre Aufgaben hierarchisch, unabhängig davon, wie sie geführt werden. Folglich erwarten die Teammitglieder Anweisungen, Korrekturen und Entscheidungen in schwierigen Sachverhalten. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht in der Beziehung, was sich wiederum auf die Jugendlichen auswirkt.
Wenn beispielsweise der Teamleiter die Aktivitäten am Wochenende bestimmt, sind Mitarbeiter:innen der Verantwortung enthoben, was bei ihnen und den jungen Menschen zu Unzufriedenheit und Ohnmacht führen kann.
Bei einem solchen Machtmissbrauch entsteht leicht eine unerwünschte Gegenmacht, der dann wiederum mit Macht begegnet werden muss. Vielmehr bietet es sich an, die Aufgaben, Befugnisse und Verantwortlichkeiten des Teamleiters je nach Talent und Verfügbarkeit unter den Mitarbeiter:innen aufzuteilen.
In diesem Kontext sprechen wir lieber über Rollen. Dabei kann eine Fachkraft die Koordination übernehmen oder man berät sich mit einem anderen Team, mit Vorgesetzten oder dem Vorstand. Eine Person ist für den Arbeitsplan zuständig und eine andere für die Diskussionsleitung in Teambesprechungen.
Finanzielle Aufgaben und Personalpolitik können auch vom Team selbst wahrgenommen werden, wobei ein Berater im Hintergrund tätig sein kann. Auch die Qualität im Allgemeinen und die Durchführung der fachlichen und methodischen Arbeit gehören zur eigenen Verantwortlichkeit des Teams. Der Wandel liegt vor allem darin, dass die Mitarbeiter:innen Eigenverantwortung übernehmen und sich zutrauen, im Kollegium über ihre berufliche Leistung zu sprechen, dass sie sich Fachwissen aneignen und sich die nötige Zeit nehmen.
Die Change-Strategie des Lernens und Entwickelns bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Mitarbeiter:innen ihre Talente kennen und einsetzen, neue Aufgaben erlernen und vielleicht auch effizientere und effektivere Arbeitsweisen finden.
Was bedeutet das für die Teamkultur?
Teamkultur:
Es wurde viel über Bestandteile der Kultur geschrieben. Das ist oft unnötig kompliziert. Im Prinzip umfasst Kultur vieles, aber das Einzige, was wirklich einen Unterschied macht, ist das Verhalten von Menschen in einem Team. Um es (zu) einfach zu machen: Kultur = Verhalten.
Dabei stellen sich folgende Fragen:
Wie kommunizieren Mitarbeiter:innen untereinander und wie mit Vertretern einer anderen Organisation? Welche Möglichkeiten nutzen sie oder nutzen sie nicht? Und was tun sie? Das alles ist beobachtbares Verhalten, das sich wiederum auf die Organisation wichtiger Angelegenheiten auswirkt. Kultur ist daher entscheidend für den Erfolg von Institutionen und gehört dazu. Damit hat es für alle höchste Priorität! Ist es so einfach? Ja – und nein. Die Frage nach dem Verhalten der Menschen in der Organisation ist zwar wichtig, aber es ist etwas komplizierter.
Die Mission:
Die Mission eines Teams beruht auf einer gemeinsame Vision. Dies ist von großer Bedeutung, weil sie die tiefsten Antriebe und Motive aller Mitarbeiter:innen berührt. Durch die explizite Angabe ihrer Motivationen können diese reflektiert und im Hinblick auf die Mission des Teams erprobt werden. Eine klare und geteilte Mission ist für jedes Team wichtig. Dafür gibt es drei Gründe:
Eine Mission hilft, zielgerichtet zu arbeiten, und schafft Klarheit darüber, was die Teammitglieder gemeinsam erreichen wollen. Dadurch können sie entscheiden, was sie tun und was nicht.
Eine klare Mission hilft, vereint zu sein. Eine solche Mission verhindert Verwirrung, Unklarheiten und unnötige Diskussionen.
Schließlich bietet die Mission eine Grundlage, um gemeinsam zu bewerten, was Mitarbeitende geleistet haben, zum Beispiel ob eine Intervention dem Auftrag oder den Grundsätzen der Neuen Autorität entspricht.
Wenn es eine Teammission gibt, ist es wichtig, sie am Leben zu erhalten. Versuchen Sie daher, die Mission regelmäßig im Team zu besprechen, beispielsweise zu Beginn eines neuen Jahres. Finden Sie eine Form, die gut zum Team passt.
Neben einer verbindenden Mission für einen Kulturwandel ist es auch wünschenswert, dass die gemeinsamen Werte des Teams etabliert werden.
Teamwerte:
Wie machen wir was in unserem Team? Wichtige Werte können beispielsweise durch Transparenz, Ehrlichkeit und Wertschätzung aufgezeigt werden, aber auch durch das Bekenntnis, dass Eltern ihr Leben lang mit ihren Kindern verbunden bleiben, dass wir uns alle in schwierigen Zeiten aufeinander verlassen können und unsere Kinder und Jugendlichen bedingungslos lieben. Vom Werteverständnis zum entwickelten Verhalten ist es ein nicht zu unterschätzender Entwicklungsschritt. Chris Argyris (1992) erforscht den Unterschied zwischen Gesprächs- und Handlungstheorie. Er weist darauf hin, wie wichtig es ist, nach den Annahmen hinter einem verbalen Statement zu suchen, damit eine nicht eindeutig erkennbare Handlung verstanden und möglicherweise korrigiert werden kann, oder die Annahmen als unzureichend zu beurteilen, um sie in Verhaltensweisen transformieren zu können.
Für einen effektiven Wandel der Teamkultur – von hierarchischer Autorität zu Neuer Autorität – sind gute Beispiele von Seiten der Mitarbeiter:innen wichtig, die »early adapters«.Ihre inspirierenden Beispiele führen zur Nachahmung, auch bei Kolleginnen und Kollegen der schweigenden Minderheit. Die Bewegung ähnelt einem Flashmob.
5. Resümee, Anregung und Kritik
Auffallend und herausfordernd ist es, dass das Konzept der Neuen Autorität zwar in vielen Jugendhilfeeinrichtungen bekannt ist, dort auch auf Interesse stößt und sogar in der Vision und Mission als spannendes Fundament der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschrieben wird. In der Alltagspraxis jedoch scheint dieses Modell kaum trainiert zu werden. Ja, es ist wirklich nicht so einfach anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche nicht leicht kontrolliert werden können und man selbst als Fachkraft aus dem Teufelskreis des ewigen Jammerns, Belehrens, Drohens und Moralisierens aussteigen muss. Die im Praxisteil beschriebenen Interventionsmöglichkeiten erfordern natürlich mehr als eine zweitätige Fortbildung. Darüber hinaus ist es ziemlich kompliziert, die Grundannahmen systemischen Denkens konsequent zu berücksichtigen. Vor allem die Annahme, dass das betrachtende System das Problemverhalten von Kindern oder Jugendlichen nicht im Kind oder Jugendlichen verortet, ist eine große Herausforderung (vgl. Hesselink/Lindemann 2022).
Neue Autorität ist ein systemischer Ansatz, der Erziehungsverantwortliche darin unterstützt, präsent zu bleiben oder es wieder zu werden. Die Interventionen zielen darauf ab, die Bindung zu Kindern oder Jugendlichen zu erneuern und zu festigen (Brunner 2020). Jesper Juul sprach in diesem Zusammenhang von "Beziehung statt Erziehung" (Juul 2005). Konkret meint er damit, dass Erwachsene mit dem Kind in Beziehung treten, mit ihm kommunizieren und es ernst nehmen, anstatt an seinem Charakter "herumzukorrigieren" und starre Erziehungsmethoden durchzusetzen aus Angst, aus dem Kind könnte sonst nichts werden (vgl. Brunner 2020). Damit unterscheidet sich die Neue Autorität von Kontrolle, Durchsetzung oder Macht, denn sie stellt die Verbundenheit in den Mittelpunkt, um mit Kindern und Jugendlichen mit selbstdestruktivem und gewalttätigem Verhalten (und deren Familien) zu arbeiten. Sie schafft die Möglichkeit, zu konstruktivem pädagogischen Handeln zurückzukehren. "Eine Lösung wirft auch immer neue Fragen auf", so warnt uns Omer. "Wir finden aber Methoden, um mit der Situation besser umzugehen" (Berliner Institut für Soziale Kompetenz & Gewaltprävention 2012).
Es bleibt notwendig – so zeigen es auch die Erfahrungen der Autoren als Pädagogen, Coaches und Supervisoren in der Jugendhilfe –, dass die Erzieher:innen und sozialpädagogischen Fachkräfte ihre Grundhaltung in Bezug auf diesen Ansatz in Trainingsseminaren einüben und kritisch überprüfen, bevor sie versuchen, die Methoden und Maßnahmen in ihrer stationären pädagogischen Praxis anzuwenden. Vor allem die Bedeutung von Körperhaltung und Sprache sowie das systemische Grundverständnis und die Haltung von Wertschätzung und Respekt sollten im Fokus stehen. Eskalationsdynamiken verbunden mit Deeskalationsstrategien sind ebenso wichtig. Insbesondere heben wir hier die Aktivierung sozialer Unterstützung und Öffentlichkeit hervor.
Skeptische Anmerkungen zur Neuen Autorität aus sozialpädagogischer Perspektive (vgl. Dierbach 2016) machen uns darauf aufmerksam, dass das Konzept der Neuen Autorität zu stark auf die Handlungsebene fokussiert ist und in der Hauptsache die Durchsetzungsfähigkeit von Erwachsenen zum Ziel hat. Dierbach meint, dass die Orientierung am schnellen Wiedererlangen von Handlungssicherheit der Erwachsenen trügerisch ist, weil dabei das Verstehen des Problems erschwert wird.
In dem Beitrag von Stefan Dierbach (Dierbach 2016) heißt es: "Ein solcher Plan von der Abschaffung der Ohnmacht" hat mit einer professionellen sozialpädagogischen Perspektive (vgl. Köngeter 2009) nichts zu tun, denn es gehe dabei nicht um die positive Stärkung von Subjekten durch die Ermöglichung von Selbstbildungsprozessen, sondern um eine Konditionierung des Verhaltens durch Anpassen, Aufgeben und Unterordnen. An dieser Zielsetzung sei überhaupt nichts neu, sondern es sei von jeher das Grundprinzip des Denkens und des Handelns autoritär eingestellter Erwachsener gewesen. Dem entgegen muss Pädagogik eine Subjektivität behaupten, die erst im Widerspruch zu solchen Vorstellungen an Kontur gewinnt: "Sie misst sich daran, das mögliche Subjekt in seiner möglichen Subjektivität zu dieser hin zu bringen, nicht bloß zu begleiten, auch nicht bloß zu drängen, sondern in Gestaltung eines komplexen Flechtwerks von Bedingungen und Praktiken ihm zu ermöglichen, sich in diesem zurechtzufinden und zu befähigen, sich geltend zu machen gegenüber einer Welt, welche die Kontrolle übernehmen möchte" (Winkler 2006, S. 163).
Winkler meint, dass es ohne eine pädagogische Theorie keine Chance gibt, zu wissen, was man in der Heimerziehung eigentlich tut (Winkler 2006).
Die Unterstützung von Kindern und Familien ist und bleibt jedoch ein hohes Gut. Daher sind Leitung, Teams, Erzieher:innen und sozialpädagogische Fachkräfte in der Jugendhilfe gegenüber den Kindern und Jugendlichen sowie sich selbst zu Höchstleistungen verpflichtet.
Literatur
Argyris, C. (1992): On organizational learning. Cambridge/Massachusetts: Blackwell
Berliner Institut für Soziale Kompetenz & Gewaltprävention (2012): Ein Workshop-Bericht mit Haim Omer im Rahmen der »Berliner Tage Neuer Autorität« vom 03. bis 05. Februar 2012 im Audimax der Freien Universität Berlin
Brunner, U. (2020): Einführung in das Konzept der Neuen Autorität. Stärke statt (Ohn-)Macht: https://www.akvb-unterricht.bkd.be.ch Startseite PDF
Dierbach, S. (2016): Der Plan der Abschaffung der Macht. In: FORUM für Kinder und Jugendarbeit 3/2016 Teil I+II, S. 4-11
Fromm, E. (1957): Die autoritäre Persönlichkeit. Beitrag Fromms im Sender RIAS Berlin im Januar 1957. Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Grigat, R. / Hesselink, J. / Overduin, P. (2020): Das lebensweltorientierte Präsenzmodell als Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe? In: Evangelische Jugendhilfe 4/2020, S. 216-225
Grigat, R. / Hesselink, J. / Overduin, P. (2021): Das Konzept der »Neuen Autorität« auf dem Prüfstand: Für die pädagogische Praxis und für Führungskräfte. In: Evangelische Jugendhilfe 3/2021, S. 179-191
Haase, D. / Olafs, B. (2014): Die »Ankündigung« als Ritual für einen Neuanfang, wenn Konflikte die Familie dominieren. In: systema 3/2014, 28. Jahrgang, S. 267-279
Hesselink, J. / Lindemann, K.-H. (2022): Neun Grundannahmen systemischen Denkens. Seminarhandout
Juul, J. (2005): Aus Erziehung wird Beziehung: Authentische Eltern – kompetente Kinder. Freiburg im Breisgau: Herder spektrum
Köngeter, S. (2009): Relationale Professionalität. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
Körner, B. / Lemme, M. (2011): Neue Autorität als Haltungs- und Handlungskonzept im eigenen professionellen Handeln. Systema 25/3, S. 205-217
Nohl, H. (1963): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt am Main: Verlag G. Schulte-Bulmke
Omer, H. / von Schlippe, A. (2010): Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Omer, H. / von Schlippe, A. (2017): Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. 11. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Omer, H. / Streit, P. (2019): Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. 2. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Wiebenga, E. / Bom, H. (2022): Het verbindend gezag van de systeemtherapeut-ouderbegeleider. In: Systeemtherapie Jaargang 34 Nummer 3, S. 139-155
Winkler, M. (2006): Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer
Ralf Grigat
Diplom-Pädagoge,
Systemischer Familienberater,
Ich-schaff’s-Coach,
Kinderschutzfachkraft
Friedrich-Ebert-Str. 35
48268 Greven
Mr. Drs. Jan Hesselink
Almelosestraat 67
7631 CD Ootmarsum (NL)
Piet Overduin
Schoonoord 7
2215 EA Voorhout (NL)
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